Kapitel 8 (2/2) - Komödianten als Detektive

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Nachdenklich verließen er und Lucia die Garderobe, und als seine Mutter ihn fand, lümmelte Elia draußen auf einer der von der Herbstsonne warmen Stufen herum, die vom Campo San Dionisio hinauf zum Haupteingang des Theaters führten. Er begleitete sie gehorsam zum nächsten Stützpunkt der Gendarmerie, wo sie sich bemühte den Beamten klar zu machen, dass ihre Tochter seit gestern Abend verschwunden war. Diese wiesen lediglich darauf hin, wie viele Kinder täglich in Venedig verschwanden und bald wieder auftauchten, und sie solle sich doch nicht so echauffieren. Damit bewirkten sie allerdings das genaue Gegenteil.

„Ich soll mich nicht echauffieren?", sagte sie und richtete sich noch mehr auf, wohl um etwas größer zu wirken, als sie eigentlich war. „Es geht um meine Tochter! Und wenn sie weiterhin so faul hier herumsitzen und nichts als Unverschämtheiten von sich geben, dann werde ich den hochgeschätzten Sior Cannata, in dessen Auftrag, mein Mann und ich die Ehre haben, das Teatro San Dionisio zu führen, wissen lassen, wie kaltschnäuzig man hier eine Mutter behandelt, die um ihr Kind fürchtet!"

Die beiden Beamten sahen einander an, murmelten etwas und ließen sich dann zumindest dazu hinreißen ein Protokoll aufzunehmen. Dass sie von den Behörden brauchbare Hilfe zu erwarten hatten, bezweifelte Elia jedoch.

Den Heimweg über schimpfte seine Mutter, scheinbar ohne dabei Luft holen zu müssen, über den Amtsschimmel in dieser Stadt. "Wie kann es sein, dass die Republik einen jeden bespitzeln lässt, doch wenn es darum geht ein Kind wieder zu finden, keiner dafür zuständig ist? Muss man denn alles selber machen?" Für Elia klang das nach keiner schlechten Idee. Er traute es seiner Mutter eher zu, als der Polizei, Cassandra wieder zu finden.

Ins Theater zurückgekehrt, unterbrach sie abermals die laufende Probe. Ein Raunen ging von einem zum Anderen und alle machten sich bereit den Saal wieder zu verlassen. Ob sie mittlerweile wussten, was passiert war? Aber vermutlich hatte Papa ihnen noch nichts gesagt. Einige bewegten sich Richtung Tür, andere hatten fragend die Blicke auf Mama gerichtet, während sie wortlos auf die Bühne trat.

„Bleibt alle hier. Ich brauche euch jetzt," erhob sie die Stimme. „Wir brauchen euch. Flavio und ich." Elias Eltern sahen einander an, und sein Vater nickte seiner Mutter zu. Er hatte vermutlich keine Ahnung, was sie jetzt vorhatte, aber er wusste, dass Mamas Ideen einerseits immer sehr brauchbar waren und es andrerseits auch keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen, wenn sie dabei war in einem Vorhaben voranzupreschen.

Alle im Theater hatten aufgehört zu tuscheln. Annalisas Stimme ließ keinen Zweifel daran zu, dass die Angelegenheit ernst war. Sie ließen sich in den Sitzreihen nieder und alle Blicke waren auf die Prinzipalin gerichtet.

"Unsere Tochter Cassandra hat gestern Abend das Theater verlassen und ist nicht zurückgekehrt," kam sie ohne Umschweife auf den Kern der Sache zu sprechen. "Sie muss während der Vorstellung weggegangen sein, als wir am Abend in die Wohnung kamen, dachten wir, sie läge friedlich in ihrem Bett, doch heute Morgen stellten wir fest, dass sie fort ist. Die Gendarmerie hat sich als wenig hilfreich erwiesen, doch ich bin davon überzeugt, dass ich auf Eure Unterstützung zählen kann. Ich habe nicht vor einfach nur die Hände in den Schoß zu legen, zu beten oder sonstwie zu hoffen, dass meinem Kind schon nichts passiert ist."

Elia hörte von seinem Platz hinten beim Saaleingang ein Schluchzen im Zuschauerraum und plötzlich konnte er den Gedanken nicht mehr verdrängen, dass die Sache möglicherweise wirklich ernst war. Bis jetzt hatte er versucht, die Möglichkeit zu ignorieren, dass Cassandra vielleicht nicht mehr auftauchte. Dass sie nicht jeden Moment hier hereintanzen könnte, so als sei nie irgendetwas geschehen. Sie hatte ständig irgendwelche Einfälle und in letzter Zeit hatte er sich immer öfter geweigert mitzumachen, weil ihm vieles davon unheimlich geworden war. Vielleicht hätte er nicht so ablehnend reagieren sollen. War es nicht seine Aufgabe, auf seine kleine Schwester aufzupassen? Auch wenn sie manchmal eine Nervensäge war?

„Meine Frage an euch ist nun: Hat jemand gesehen, wohin sie ging? Hat sie irgendwas erzählt?" Sie blickte scharf in die Richtung der anderen Kinder aus der Ballettgruppe, die ihren Blick jedoch nur mit großen, runden Augen erwiderten. „Bitte kommt zu mir, wenn ihr etwas wisst. Meine zweite Bitte ist: Helft mir. Die Polizei zeigt keine großen Anstrengungen, aber ich habe hier eine ganze Theatercompagnie und meiner Auffassung nach, kann ein guter Komödiant auch ein guter Detektiv sein. Heute wird nicht mehr geprobt." Sie vermied es, Papa dabei anzusehen. Natürlich war das nicht abgesprochen, aber was konnte er schon einwenden? „Nachdem was passiert ist, kann sich ohnehin niemand konzentrieren. Bitte tut euch zusammen, ich brauche sieben Gruppen von Leuten, die die einzelnen Stadtteile durchsuchen. Am besten ihr meldet euch für den Sestiere, in dem ihr aufgewachsen seid oder in dem ihr euch auskennt. Ich möchte, dass ihr mit den Leuten redet oder eventuelle Verstecke ausfindig macht. Ein Mädchen kann nicht einfach so verschwinden."

Damit kam wieder Leben in die Truppe. Die Leute begannen aufgeregt zu schnattern und es wurde lautstark darüber debattiert, wer in welchem Sestiere suchen sollte. Wenn die verschiedenen Stadtteile systematisch abgegrast waren, konnte man noch die restlichen Inseln miteinbeziehen. Vermutlich hoffte Mama auf konkretere Hinweise, denn es würde Wochen dauern, die über hundert Inseln der Lagune abzusuchen. Es war immer noch am wahrscheinlichsten, dass jemand in der Stadt selbst etwas gesehen hatte.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt