Wenig später legte die Gondel an einem einsam gelegenen Bootssteg an. Das Holz war bereits etwas morsch und es sah nicht aus, als käme oft jemand hier her. Giorgio hatte sie schon das eine oder andere Mal hier abgesetzt und dennoch warf er ihr einen skeptischen Blick zu, als wollte er ihr sagen, dass er es nicht gutheißen konnte, wenn eine junge Frau mitten in der Nacht hier zurückgelassen werden wollte. Er ahnte ja nicht, dass sie in Wahrheit über siebzig Lenze zählte, sich ganz gut wehren konnte und, dass sie generell schwerer umzubringen war, als ein Mensch. Aber, dass sie anders war, als die jungen Frauen der Lagunenstadt es zu sein pflegten, hatte er vermutlich schon selbst erraten. Eine von Giorgios wertvollsten Qualitäten war seine Verschwiegenheit.
Sie kletterte an Land und bemühte sich, den morschen Steg so schnell sie konnte hinter sich zu lassen. Zum Abschied winkte sie Giorgio vom Ufer aus noch einmal zu. Wie immer würde er sie rechtzeitig vor Tagesanbruch wieder von hier abholen.
Sie folgte dem überwachsenen Pfad, der sie zu einem Tor führte. Der Schlüssel dazu befand sich vermutlich in irgendeinem ebenso gut gehüteten, wie vergessenen Schrank des Dogenpalastes. Dieser alte Befestigungsposten war seit Generationen nicht ungenutzt und dem Verfall preisgegeben. Milica wandte sich vom Hauptweg ab und schlich einen verwachsenen Pfad im Dickicht entlang, bis sie an die Stelle kam, an der die rote Backsteinmauer bereits ziemlich abgebröckelt war. Sie raffte ihre Röcke und war im Nu über den Steinhaufen hinauf auf die Mauerlücke geturnt. Auf der anderen Seite sprang sie hinunter und landete härter, als er wartet. Sie rieb sich die durchlöcherte Stelle an ihrem Bauch, die sich nach einer solchen Übung bemerkbar machte und setzte dann vorsichtig den gewohnten Weg durch Gras und Gebüsch fort, bis zu dem vom Tor kommenden Hauptweg. Vor ihr lag ein trotziger Backsteinbau aus dem vorigen Jahrhundert. Venedig hatte gewiss bessere Zeiten gesehen, auch wenn das heutzutage keiner zuzugeben wagte. Aber sie war oft daneben gesessen, wenn Dareios, Lajos und Ersilia in Anekdoten aus den früheren Glanzzeiten der Serenissima schwelgten, in denen beeindruckende Schiffe, Gewürzladungen aus dem Orient und die Namen großer Künstler, die sie immer durcheinanderbrachte, eine Rolle spielten. Doch diese Zeiten waren vorbei.
Sie ließ das Gebäude links liegen, und setzte stattdessen ihren Weg fort zur anderen Seite der von Kanälen durchzogenen Insel. Einer davon war mehrere Meter breit, die restlichen schmäler und sie führten zu einer Art Becken, das sich am vergitterten Wassereingang zum Fort befand. Früher waren diese Kanäle streng bewacht gewesen, doch die Wachen hatten nun der Vegetation Platz gemacht und die Gitter waren eingerostet. Milica spazierte zur Breitseite des Einfahrtsbeckens, wo einige Treppen das Zusteigen ins Boot erleichtern sollten. Sie ließ sich auf der obersten Stufe nieder, zog ihre Stiefel aus und streckte ihre Zehen ins Wasser. Sie bewegte ihre Füße an der Wasseroberfläche auf und ab, um ein möglichst deutliches Platschen hervorzurufen. Es dauerte nicht lange, bis sie etwas Kaltes spürte, das sich um ihren Knöchel legte. Sie lachte laut auf, und strampelte halbherzig mit dem Bein, um sich loszumachen.
Vor ihr schimmerten grünlich die Gesichtszüge einer Sirene im Wasser. Die Hände, die nun neben Milica nach der steinernen Treppe griffen, waren feingliedrig und hatten ungewöhnlich lange Finger, die durch schimmernde Schwimmhäute miteinander verbunden waren. Die Fingernägel waren schmal, kräftig, beinahe schwarz und liefen nach vorne hin spitz zu. Vermutlich konnte man damit besonders gut Muscheln öffnen, oder Algen von Stegen und Fundamenten abschaben. Die Sirene stützte sich auf sie Steintreppe und zog ihren schmalen, aber muskulösen Körper aus dem Wasser. Ihre Brüste traten an ihrem eher stromlinienförmig gebauten Oberkörper kaum hervor, was für ein Leben im Meer wohl zweckmäßig war. Ihre krausen Haare formten auf dem Kopf ein kompliziert verflochtenes Gebilde, die Haarfarbe konnte man vielleicht, als ein schwärzliches Grün bezeichnen. Das lag an den Algen, die sich die Sirenen gerne in die Haare flochten, unter anderem ... Es gab nicht viel, das sie noch nicht in den Frisuren von Sirenen entdeckt hatte. Sie verwendeten gerne Glasperlen, Muscheln und was man eben so im Meer finden konnte. Melsunia, die Sirene, mit der sie es gerade zu tun hatte, zog nun auch den Rest ihres Körpers aus dem Wasser, der an den Hüften, anstatt in zwei Beinen in einen kräftigen, silbrig glänzenden Fischschwanz auslief.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...