7. Kapitel (2/3) - Hinweggetragen

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Die Wogen schienen fürs Erste geglättet und ich hörte wie Milica draußen auf dem Gang versuchte Dareios zum Ausgehen zu überreden. Keine schlechte Idee, dachte ich. Beim Pharaospiel würde sich seine Laune gewiss bessern. Ich konnte es nicht erwarten, den Rest der Nacht ungestört in der Bibliothek zu verbringen.

Ich machte es mir in meinem gepolsterten Sessel gemütlich und widmete mich dem Sagenbüchlein, das sich nun als interessanter erwies, als es aussah. Es war ein billiger Druck, nichts das man sich zum Eindruckschinden in eine Bibliothek stellte. Der Einband bestand aus Karton und fühlte sich ekelhaft staubig an. Ich durchsuchte das Innenleben, fand allerdings keinerlei Hinweis auf den Verfasser oder eine Druckerei, geschweige denn das Jahr des Druckes. Sonderlich alt konnte es dennoch nicht sein. Es musste jedenfalls nach Antonio Vivaldis Tod erschienen sein. Ich konnte sein Todesjahr in keinem der hier vorhandenen Verzeichnisse finden, aber ein Blick in Goldonis Memoiren verriet mir, dass die Opern ‚Griselda' und ‚Aristide', an denen die beiden zusammenarbeiteten, beide im Jahre 1735 im Teatro San Grisostomo zur Aufführung kamen. Nicht allzu lange darauf, hatte der alternde Musiker die Stadt verlassen und war vermutlich einige Jahre später gestorben. Mit etwas Zeit konnte ich bestimmt Genaueres herausfinden. Was ich bisher mit Sicherheit wusste, war jedenfalls, dass Vivaldi vor 45 Jahren noch zweifelsohne in Venedig gewirkt hatte. Vielleicht war sein Tod 35 oder 40 Jahre her, also konnte das vorliegende Sagenbüchlein nicht älter sein als ich selbst. Das half mir vielleicht weiter.

Möglicherweise ließ sich die Buchhandlung noch finden, wenn Milica nur gründlich nachdachte. Vielleicht lebte der Buchhändler noch, unter Umständen sogar der Verfasser. Was mochte er für ein Mensch sein? Jemand, der mehr wusste, oder einfach nur jemand, der die ganzen Klatsch- und Tratschgeschichten der Stadt zusammengetragen und aufgeschrieben hatte, um damit seine Frau, seine Kinder oder sonst jemanden zu unterhalten und nebenbei etwas Geld zu verdienen. Jemand, der durch Zufall auch das eine oder andere Körnchen Wahrheit gefunden hatte, ohne es zu wissen. Mir erschien das am wahrscheinlichsten. Unerhörte Ereignisse hinterließen ihre Spur oft in Form von Geschichten, die keiner mehr so richtig glauben wollte. Und der Großteil dieser Geschichten enthielt wohl eher die Phantasie der Marktleute von Rialto als tatsächliche Ereignisse. Wie zum Beispiel die Sache mit dem Ungeheuer, das angeblich unter der Punta della Dogana lebte - direkt an der Einfahrt des Canal Grande mit Blick auf den Dogenpalast. Es gab sogar eine Geschichte über die Gründung Venedigs.

Im Jahre des Herrn 421 am 25. Tage des Monats März zur Mittagsstunde, es war ein Ostersonntag, fand diese noble und illustre Stadt ihren Anbeginn. Die Stunde, der Tag, das Jahr - ja selbst die Konstellation der Gestirne - zeugten von der aussichtsreichen und bedeutsamen Zukunft dieser auf Inseln gegründeten Stadt. Ihre Schönheit sollte keine Gleichen finden, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Ihre Konstruktion selbst zeugte vom unnachahmlichen Geschick ihrer Bewohner: der Händler, der Schiffsbauer, der Baumeister und all derer die der Serenissima mit Gottes Hilfe ihr Gesicht gegeben haben, ihren Wohlstand, ihre Paläste, ihre Brücken und ihre Schönheit, die aus den Sümpfen der Lagune stieg. Die Sümpfe behielten durch solche Veredelung ihre schlechten Dämpfe und die Geister des Chaos und der Unordnung zurück. Manch einem Bürger der Stadt gelang es, der Versuchung zu widerstehen und die schlechten Ombroi der Sümpfe zur Schaffung von Großem zu nutzen und so selbst die Fluchgeister zur Verherrlichung Gottes zu bringen. Manch Anderer stellte die Macht der Ombroi in den Dienst gemeiner Eigensucht und sie brachten ihm Verderben sowie seiner Familie und deren Nachkommen.

Ich runzelte die Stirn angesichts dieser seltsamen Geschichte. Die Legende von der Gründung Venedigs im Jahr 421 war mir bekannt. Wer kannte sie nicht? Aber die Variante mit den Fluchgeistern, die in den Sümpfen lauerten, hatte ich bisher noch nie gehört. Ich blätterte weiter durch die vergilbten Seiten, las noch einige Geschichten, solange bis mir die Buchstaben vor den Augen verschwammen.

Das Buch rutschte mir aus den Händen und ich ließ meinen Blick ins Leere schweifen. Mir war ganz merkwürdig. Verschwimmende Buchstaben ... so etwas hatte ich nicht mehr gekannt, seit ich mein sterbliches Dasein hinter mir gelassen hatte. Ich fühlte mich benommen und erschöpft und obwohl ich erst vor einer Stunde genügend Blut zu mir genommen hatte, wusste ich, dass es für diese Nacht nicht reichen würde. Aus den Augenwinkeln nahm ich Bewegungen um mich herum wahr. So als huschten halb durchscheinende Wesen an mir vorbei. Alles - selbst tote Gegenstände schienen auf einmal belebt zu sein und ich wusste, sie waren nicht jetzt erst lebendig geworden, sie waren es immer schon gewesen.

Bewegten sich nicht die Seiten des Buches von ganz alleine, wenn ich es aufgeschlagen auf den Tisch legte? Oder war dies nur eine Sinnestäuschung? Wirkte das Landschaftsgemälde zwischen den Regalen nicht auf einmal wie ein Fenster in eine ganz reale, neapolitanische Idylle? Wiegten sich nicht die Bäume im Wind und flatterten die Kleider der Menschen? Ich lehnte mich zurück und versuchte mich auf meine Wahrnehmungen zu konzentrieren. Waren dies meine sich weiterentwickelnden Kräfte? Niemand hatte mir erzählt, dass diese so aussehen konnten. Ich konnte mir auch kaum eine Vorstellung davon machen, wohin diese mich führen würden. Aber mir kam alles ganz natürlich vor, auch mein gesteigerter Durst war dadurch erklärbar. Wie bei einem sich im Wachstum befindlichen Kind.

Ich schloss die Augen und richtete meine Aufmerksamkeit völlig auf meine Empfindungen. Versuchte, den Raum um mich herum zu spüren und mir war, als huschte etwas über meine Haut, strich mir über die Wangen, berührte meine Hände und legte sich wie kleine Hände oder Finger auf den Stoff meiner Kleidung. Es kribbelte, wie ein nervöses Vibrieren, das durch meinen Körper ging, durchlief mich, sodass sich jedes Härchen an meinen Armen einzeln aufstellte. Eine Nervosität, die sich auf mich übertrug und bis in meine Blutbahnen einzudringen schien, wo es pulsierte und stärker wurde. Es war, als riefe mich etwas - so erhob ich mich von meinem Sessel und folgte.

Meine Beine fühlten sich schwach und zittrig an, mein Mund war bereits so trocken, als hätte ich seit Tagen nichts getrunken, dennoch musste ich der Verheißung folgen. Die Verheißung von etwas Höherem und Größerem als ich es mir vorstellen konnte und ich war ein Teil davon. Ich setzte meinen Fuß über die Schwelle der Bibliothek und in dem Moment gellte ein Schrei durch mein Gehirn. Ein durchdringendes „Nein!" Ich fuhr zusammen und der Schall drückte mich gegen den Türflügel.

Sollte ich mich denn widersetzen, um einer großen Gefahr zu entgehen? War diese neue Macht gefährlich? Mit Sicherheit. Spürte ich die Gefahr nicht in jeder Faser meines Körpers? Aber ich machte mir nichts daraus. Ich konnte und wollte mich nicht widersetzen, ich wollte mehr davon. Der Schrei wurde schriller, hörte nicht auf. Es klang wie Kinderstimmen. Vielleicht das Geisterkind? Oder sogar mehrere Geisterkinder?

Darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich musste meine neuen Kräfte kennenlernen, sie waren das Einzige, das mich im Augenblick interessierte. So ließ ich mich trotz des unaufhörlichen Geschreis nicht davon abhalten, mich von meiner Kraft leiten zu lassen. Sie führte mich und ich näherte mich Schritt für Schritt dem Ort der Gefahr. Auf dem Weg durch die vielen verwinkelten Gänge des Hauses nahm ich weiterhin geisterhafte Bewegungen um mich herum wahr. Hände, die nach mir greifen und mich aufhalten wollten, doch sie waren schattenhaft, Geister eben, sie konnten mir keinen Einhalt gebieten. Ich wusste, dass ich nur an dem Ort der Gefahr ein Teil des Ganzen werden konnte. Dies wurde mir mit jedem Schritt deutlicher. Mir war, als hätte ich all die Jahre nur auf diese eine Begegnung hingesteuert, mit der nun mein eigentliches Leben beginnen sollte.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit stieg ich aufrecht und ohne mich irgendwo festzuhalten die Hühnertreppe zum Dachboden hinauf, durch Spinnweben bewegte ich mich auf das hellerleuchtete Viereck zu, das der Mond durch ein Fenster auf die hölzernen Planken warf. Schwankend ging ich in die Knie. Diese Macht entzog meinem Körper alle Energie, doch ermöglichte sie es meinem Geist an alle Orte zu reisen. Durch das Fenster sah ich den Himmel und den Mond, auch das Meer und die Lagune lagen vor mir, ich sah sie nicht durch das Fenster, sondern durch meinen Geist. Ganz und gar wahrhaftig.

Ich hörte die wundervolle Musik des Roten Priesters und ich konnte die Noten ganz klar vor mir erkennen. Sie schwammen auf klar gezeichneten leuchtenden Notenzeilen über dem Wasser. Im ersten Moment wollte ich noch eine Feder und Papier holen gehen, um sie aufschreiben zu können, doch dann sah ich ein, dass ich das nicht musste. Sie würden immer hier sein für mich, sie würden sich in mein Gedächtnis einprägen, wenn ich sie nur gründlich studierte und verstand. Während mein Körper entkräftet auf die Holzbretter sank, ließ ich mich völlig von der Genialität der Notenschrift einnehmen und von der himmlischen Musik hinwegtragen.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt