9. Kapitel (3/5) - Unter Schock

27 7 0
                                    

Elia stand mit zittrigen Knien daneben Er konnte keinen Schritt tun und keinen Laut von sich geben. Er war wie gefroren. Er fühlte sich gelähmt und außerstande seinen Blick von dem Schreckensbild abzuwenden. Dabei wusste er nicht, was ihn mehr entsetzte: Der Schrei den Milica ihrer Kehle entrang, ein gutturaler Schmerzensschrei, der ihm den Hals, die Brust und den Magen zusammenschnürte. Dabei hörte sie nicht auf die vertrockneten Wangen zu streicheln und abwechselnd die lose in Giulios Seidenmantel steckenden Schultern zu rütteln.

Oder verstörte ihn mehr, was sie tat, nachdem der Schrei verstummt war? Sie ließ für einen Moment von dem dort liegenden Körper ab, mit ruckartigen Bewegungen schälte sie sich aus ihrem cremefarbenen Morgenrock, sodass sie nur noch mit einem locker herabhängenden Hemd bekleidet war. Sie biss sich so heftig in den Unterarm, dass das Blut an ihren Zähnen und Lippen hinab lief. Es sah aus, als hätte sie das schon oft getan. Sie hielt den blutenden Arm über das Gesicht des Ausgetrockneten, sie schien das Blut in den halb geöffneten Mund tropfen zu wollen.

Elia starrte gebannt auf das sich vor ihm vollziehende Schauspiel, als die Gestalt des Geistermädchens an ihm vorüber schwebte. Die Blicke der beiden trafen sich. Das Mädchen schien das Entsetzen in Elias Blick wahrzunehmen. Es kam zu ihm hin, nickte und legte die kühle körperlose Hand auf seine. Es sah nun viel weniger beunruhigt aus und blickte ihn an, als wollte es ihm sagen, dass dieses Blutbad schon seine Ordnung und Richtigkeit hatte. Er starrte das Kind verständnislos an. Es wollte ihn wohl trösten oder beschwichtigen, aber das funktionierte nicht. Er wusste nicht, wie viele Augenblicke er einfach nur so dagestanden hatte, als sich plötzlich etwas in ihm regte. Vertraut und unbekannt zugleich. Es war eine Stimme, so wie sie sich immer wieder bemerkbar machten, nur viel schwächer, es war wie ein schmerzerfülltes Seufzen, das in ihm hochstieg. Mit einem Mal hatte er Durst und vor seinem inneren Auge sah er Blut, das über einen weißen Arm floss ... etwas in ihm lechzte danach ...

„Nein", stieß er hervor. „Weg! Ich muss hier weg!" Er schüttelte sich, als ob er so die inneren Bilder loswerden konnte und dann gelang es ihm, seine Füße wieder vom Boden loszureißen und er rannte.

Er stolperte die Dachbodentreppe hinunter. Er wollte nichts, als diesen schrecklichen Ort so schnell wie möglich hinter sich lassen. Er hetzte durch Gänge ohne Fenster, Gänge mit Fenstern, Treppen hinunter, Treppen hinauf. Wie weitläufig war dieses Gebäude überhaupt? Es gab keine Gänge, die einfach nur in einer Etage blieben, ständig ging es hinauf und hinunter und um Ecken und Winkel herum, sodass er irgendwann die Orientierung verlor. Elia war zum zweiten Mal auf diesem Dachboden gewesen, also sollte er den Weg kennen. Er wagte es jedoch nicht, stehen zu bleiben und nachzudenken, weil er fürchtete, seine Gedanken könnten ihm dann noch schrecklichere Streiche spielen.

Er kam nun in einen Gang, dessen Wand an einer Seite von Fenstern durchbrochen war. Eines der Fenster stand leicht angelehnt und er erspähte draußen einen Innenhof mit einem einzelnen Baum in der Mitte. Daneben entdeckte er zwei Personen, die dort unten standen. Langsam öffnete er das Fenster vollständig. Frische Luft und so etwas Normales wie einen Baum anschauen. Vielleicht vertrieb ihm das die Angst, zumindest so weit, dass er hier wieder herausfinden konnte. Vorsichtig blickte er hinaus und beobachtete die beiden, in lange Mäntel gehüllten Gestalten. Eben schienen sie sich noch unterhalten zu haben. Nun, gewiss hatte sie das Knarzen des Fensters auf ihn aufmerksam gemacht, denn sie blickten zu ihm hinauf. Er erkannte alle zwei. Die größere der beiden Gestalten war Dareios. Elia schien sich gerade einmal auf Höhe des ersten Stockes zu befinden und so konnte er dessen Gesicht gut erkennen, selbst den stechenden Blick, den er ihm nun zuwarf. Die zweite Gestalt überraschte ihn mehr, nämlich seine Mutter. Auch sie hatte ihn bereits erkannt, denn sie winkte ihm zu. Sichtlich erfreut und erleichtert ihn zu sehen.

„Elia! Komm' sofort her! Hörst du?" Ihre Worte klangen energisch. Vermutlich war er schon länger fort, als er gedacht hatte, oder sie hatte es nicht mehr ausgehalten auf ihn zu warten.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt