7. Kapitel (3/3) - Die Angst überlisten

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Elia schlenderte mit der Schreibtasche unter dem Arm heimwärts ohne dabei große Eile walten zu lassen oder sofort den direkten Weg einzuschlagen. Er war ganz froh, ein paar Augenblicke für sich zu haben ohne dass, irgendjemand was von ihm wollte. In denen nicht Cassandra darauf bestand mit ihm Entdeckungstouren zu machen oder seine Mutter ihm irgendeine neue Aufgabe aufhalste. Sie war schließlich nie um sogenannte Sonderaufträge verlegen. Ob es nun darum ging, die Requisiten für den Abend durchzugehen, einen Text zu überprüfen oder eine ganze Passage neu zu lernen, weil es ihr oder Papa wieder einmal gepasst hatte, das Stück umzuschreiben.

Im Moment wartete niemand auf ihn. Die Vorstellung war bestimmt noch nicht zu Ende, dachte er bei sich, während er ein Steinchen über die Pflastersteine vor sich her kickte. Die engen Gassen, die Häuser, die Brücken und Kanäle waren ihm hier so vertraut. Wie sollte das denn gehen, wenn er in eine fremde Stadt musste? Er kannte und liebte jeden dieser Ecken und Winkel, er wollte nicht weg von hier.

Ihm war nicht entgangen, dass Onkel Giulio nicht gerade der hingebungsvollste Französischlehrer war und das konnte ihm nur Recht sein. Er würde seiner Mutter berichten können, dass er die Zahlen gelernt hatte, gleichzeitig hegte er jedoch die Hoffnung, dass der Lernfortschritt auf sich warten lassen würde. Die Unterrichtsstunde selbst war eigenartig genug gewesen. Teilweise etwas verstörend, wenn er an Onkel Giulios Launen dachte, oder an Dareios' plötzliches Auftauchen und dann noch Rosinas kryptische Bemerkungen.

Langweilig war ihm jedenfalls nicht geworden. Onkel Giulio und seine Verwandten, oder was immer sie auch waren, waren eben anders als andere Leute. Selbst Rosina hatte er irgendwie liebgewonnen, obwohl, oder vielleicht gerade, weil sie ihn an seine Schwester erinnerte. Was wohl ihre Geschichte war? Was war mit ihr passiert, sodass sie jetzt als Geist umgehen musste?

Finde es heraus, hörte er plötzlich eine Stimme. Nein er hörte die Stimme nicht, er spürte sie und bei der Erkenntnis kroch ihm die Kälte wieder bis in die Knochen. Es war wie damals in dem Gang hinter der Wanduhr. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Als er an die nächste Weggabelung kam, war es, als wollte ihn eine unsichtbare Kraft dazu bringen, nach links abzubiegen, obwohl er doch vorhatte geradeaus zu gehen.

Komm sei kein Spaßverderber, ich zeig dir was! Es war die Stimme seiner Schwester.

"Cassandra?", rief er, und wandte sich nach allen Seiten. Er bekam keine Antwort. "Heh, ich will jetzt nicht verstecken spielen", murmelte er. Er hörte Cassandras helles Lachen und da erst wurde ihm bewusst, dass er es nicht wirklich hörte. Auch das war irgendwo in ihm drinnen, so wie die anderen Stimmen.

„Aus. Nein. Ich will das nicht", sagte er leise zu sich selbst. Das war nicht echt, also musste er nicht darauf hören. Er ging geradeaus über die Wegkreuzung und sang dabei leise ein Lied, das er erst gestern auswendig gelernt hatte. Er musste sich konzentrieren, um alle Strophen richtig zusammen zu bekommen - und solange er sich nur auf die Wörter und Reime konzentrierte lenkten ihn diese lautlosen Stimmen und unsichtbaren Kräfte nicht länger ab. Gewiss versuchten sie es noch eine Weile, doch als er einige Häuserecken weiter gelaufen war, schienen sie nachzulassen. Er fuhr fort, das Lied vor sich hin zu singen. Nachdem er alle Strophen durchhatte, versuchte er, sich an die französischen Zahlen zu erinnern und diese aufzusagen. Bestimmt konnte man die auch so lernen, wie ein Lied oder einen Theatertext.

Er verlangsamte seine Schritte und versuchte wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Erst jetzt merkte er, dass er unwillkürlich schneller geworden war, dass er durch das Singen und Rennen ganz aus der Puste gekommen war. Aber er fühlte sich erleichtert und auch ein wenig euphorisch. Er hatte dem Unaussprechlichen, das ihm Angst machte ganz einfach die Stirn geboten. Mochten ihm einige Leute Starrsinn vorwerfen, er selbst fühlte sich wohler dabei, wenn er den Überblick behielt. Es reichte ja, dass seine Schwester sich komplett von diesem Unsichtbaren einnehmen ließ. Sodass, dieses Etwas schon begann Cassandras Stimme nachzumachen. Darüber sollte er wirklich einmal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden. Auch wenn er sich wenig davon versprach. Sie war ja genauso halsstarrig, wie er selbst, wenn es ums Prinzip ging.

Nichtsdestotrotz, überquerte er den Campo San Dionisio schließlich in siegessicherer Stimmung. Er pfiff leise sein Liedchen vor sich hin, als er sich an den, aus dem Theater strömenden Menschentrauben vorbei, hin zu den Wohntrakten schlich. Als er die Wohnungstür öffnete, sah er, dass alles noch im Dunkeln lag und verzichtete darauf Licht zu machen. Auf dem Weg durch das Speisezimmer stibitzte er sich ein Stück Brot aus dem Körbchen und schlich dann barfuß ins Schlafzimmer, wo Kassandra bereits in ihre Decke eingerollt in tiefem Schlummer lag.

Er setzte sich auf sein Bett, aß über die Ereignisse des Abends sinnierend das Brot auf, dann beutelte er die Krümel von der Bettdecke, wohl wissend, dass Lucia diese beim Saubermachen nicht entgehen würden. Er würde sich bestimmt wieder anhören müssen, dass es sich nicht gehörte, im Bett zu essen und alles anzukrümeln. Als er sich satt und zufrieden einrollte, fühlte er sich ein Stück erwachsener als am Abend zuvor. Und das ohne auch nur ansatzweise in Paris gewesen zu sein. Denn auch seine Heimatstadt, so viel stand jetzt fest, hielt ausreichend Herausforderungen und Abenteuer bereit an denen er wachsen und lernen konnte.





Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt