Die feuchte Nachtluft schlug Elia entgegen und er zog den Mantel enger um sich, um dem Nieselregen zu trotzen. Doch war es nicht die Witterung, die ihn frösteln ließ, sondern all die Gedanken, die er nicht zu denken wagte, und die er kaum noch fortdrängen konnte. Der gestrige Abend hatte ihm mehr Fragen als Antworten aufgegeben. Vorgestern hatte er sich noch ausgekannt in seiner Welt und sich einigermaßen sicher gefühlt. Alles war gewesen, wie es sein sollte. Giulio und dessen Verwandte waren schließlich immer schon seltsam gewesen. Nun hatte er aber so vieles erlebt, das er nicht einordnen oder akzeptieren konnte. Selbst seine Mutter schien etwas vor ihm geheimzuhalten. Und er war sich nicht sicher, ob er darüber wirklich mehr wissen wollte. Diesmal nahm er sich vor, die Angst vor der Stelle, an der er Cassandras Stimme zuletzt mit ihm gesprochen hatte, zu ignorieren. Er musste dorthin zurück. Er hatte sie einmal gehört, vielleicht funktionierte das noch einmal. Er wollte diese Stimme oder was immer es war herausfordern, das schien ihm die einzige Möglichkeit, um mehr zu erfahren. Vielleicht war es wirklich Cassandra gewesen und sie wollte ihm etwas mitteilen. Er musste es herausfinden, selbst wenn schon der Gedanke daran kaltes Unbehagen in ihm auslöste.
Er schlurfte über die nass glänzenden Pflastersteine und versuchte während des Gehens ruhig zu werden. Der Sottoportego, an dem es angefangen hatte, lag wenig später direkt vor ihm. Ein unbeleuchteter Durchgang. Er stellte sich darunter und wartete. Hier wurde er wenigstens nicht nass und der Wind blies ihm nicht mehr so um die Ohren. Er lehnte den Rücken gegen die Mauer, schloss die Augen, versuchte, das ungute Gefühl in seinem Bauch auszublenden und ganz fest an Cassandra zu denken. Vermutlich war es kompletter Unsinn. Er hörte nur das Plätschern eines Kanals, der in der Nähe vorbei führte, und kam sich ganz schön dumm vor, wie er da so stand und auf eine Antwort lauschte. Warum noch mal war ihm das vorhin wie ein solider Plan vorgekommen. Während er mit geschlossenen Augen an der Hausmauer lehnte, wurden ihm auch sein Kopf und seine Gliedmaßen immer schwerer. Er war den ganzen Tag beschäftigt gewesen, hatte keinen Moment lang still gestanden. Wenn man tanzte, spielte und versuchte ein anderer zu sein, dann musste man sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, für mehr war da kein Platz. Doch nun stand er gerade einmal einen Augenblick lang ruhig an einer Stelle, und schon ratterten die Gedanken wieder. Allerdings gedämpft durch die Müdigkeit. Er wusste, dass er Angst haben sollte, war jedoch selbst dafür zu müde. Ihm war, als sei die Ziegelmauer hinter ihm das gemütlichste Bett, auf dem er sich nur einen kurzen Moment lang ausruhen wollte.
Lass dich fallen und ruh dich aus.
Es war, als spräche die Mauer mit sanfter Stimme zu ihm. Und warum sollte sie das nicht tun? Wenn Wände Ohren hatten, warum sollten sie dann nicht auch sprechen können? Er ließ sich von der tröstlichen Dunkelheit einhüllen und spürte seine Knie weich werden, ohne sich dagegen zu wehren.
Lass dich fallen, du hast die Ruhe verdient.
War es wirklich die Mauer, die zu ihm sprach? Aber er sah sonst niemanden.
„Wer bist du?", murmelte er.
Du kennst mich, du musst keine Angst haben. Deine Schwester hat auch keine.
„Cassandra ... Wo ist sie?"
Es geht ihr gut.
„Du weißt, wo sie ist? Hast du sie entführt?"
Ihm war, als lachte die Stimme ihn aus.
„Gib sie wieder her."
Wenn du so darum bettelst ...
„Das tue ich! Gib sie her. Wo ist sie?"
Nicht einfach so.
„Was willst du dafür?"
Nichts, was nicht bereits verloren ist. Deinen Onkel, so nennst du ihn doch? Ihn will ich. Er ist ohnehin schon tot, auch wenn seine Freunde sich noch vormachen, dass sie ihn retten können. Er ist verloren, aber mir kann er noch nützlich sein.
„Das kommt nicht in Frage! Geh fort."
Früher oder später wirst du ihn zu mir bringen. Du willst doch nicht, dass deiner Schwester etwas zustößt? Sie könnte eines Morgens tot an den Strand von Malamocco gespült werden. Das willst du doch nicht? Dann sind sie beide tot. Julien und deine liebe Cassandra.
„Nein!", schrie er. Das Schrillen seiner eigenen Stimme riss ihn aus seiner Trance. Er spürte die harten Pflastersteine unter sich und schmeckte nassen Dreck im Mund. Angeekelt spuckte er aus und schaute sich um. Er sah niemanden und auch die Stimme war fort. Er war sich dessen sicher, ohne zu wissen warum. Er rappelte sich auf, rieb sich die schmerzenden Knie und Ellenbogen und rannte los zu Giulios Haus.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
أدب تاريخيVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...