Der Pfosten war kalt, feucht und mit glitschigen Algen, sowie mit Miesmuscheln bewachsen. Milica rutschte immer wieder ab. Sie fror so sehr, dass sie ihre Finger kaum noch rühren konnte. Sie war froh, gerade zuvor eine Menge Blut zu sich genommen zu haben, aber jetzt wärmte sie auch das nicht mehr. Sie stellte sich vor, wie ihre Finger abglitten und sie einfach von den Wellen hinfort getrieben wurde. Sie hatte nicht mehr die Kraft zu schwimmen oder zu steuern, wo sie hintrieb. Sie konnte nicht ertrinken, vielleicht würde sie Fischern ins Netz gehen, oder an einer der vielen Inseln angespült werden. Doch gerade, als sie glaubte, es nicht mehr zu schaffen, legte sich eine warme Hand auf ihre Schulter.
„Wir haben den Jungen, aber Melsunia ist uns entwischt," sagte Sirmea. Ihr Körper musste schon stark ausgekühlt sein, dachte Milica, wenn ihr eine Sirenenhand auf einmal angenehm warm erschien. „Wir bringen euch beide heim, mehr können wir nicht tun." Milica stellte keine Fragen, sie ließ sich schnappen und wiederum quer durch die Lagune ziehen. Elia war in Sicherheit. Das war für den Augenblick genug. Einige Male tauchten sie unter und schwammen unter Wasser weiter. Vermutlich wollte Sirmea nicht, dass man ihnen folgte oder sie entdeckte. Milica ließ es mit sich geschehen und vertraute darauf, dass Sirmea wusste, was sie tat. Sie hatten bereits genug Aufsehen veranstaltet. Nun schwammen die vielen Sirenen, für Menschen unsichtbar, unter der Wasseroberfläche davon. Es dauerte nicht lange, da hatten sie den kleinen Kanal am Palazzo in Cannaregio erreicht, wo Milica mit steifen Knochen an Land kletterte. Sie ließ sich gegen die Mauer des Palazzo plumpsen und blieb einfach sitzen. Kurz darauf hörte sie erneutes Plätschern. Es kündigte zwei von Sirmeas Schwestern an. Sie kannte die beiden nicht, doch zwischen ihnen trieb der bewusstlose Elia auf dem Wasser. Sie hatten ihn wohl zu zweit transportiert, damit sein Kopf nicht unnötig unter Wasser geriet. Immerhin war er ein Mensch und die ertranken leicht. „Bring ihn hinein", sagte Sirmea. „Und wenn du ihn warm und trocken untergebracht hast, dann komm wieder, wir bleiben in der Nähe." Milica nickte wortlos. Sie nahm den reglosen Knaben entgegen und schaffte es ganz gut, ihn hochzuheben. Sie war zwar erschöpft und durchgefroren, aber immer noch kräftiger und robuster als ein Sterblicher. Stufe für Stufe trug sie ihn hinauf und als ihr eine aufgeregte Signora Manfridi entgegenlief, befahl Milica ihr, sofort ein Kaminfeuer in der Bibliothek anzufachen. Dann sah sie sich ausgerechnet den Menschen gegenüber, denen sie im Augenblick am wenigsten begegnen wollte. Elias Eltern. Zerzaust und mit fragenden Blicken standen sie vor ihr. Waren sie eilig hierher gelaufen, als sie bemerkt hatten, dass ihr Sohn nicht zuhause war? Was sollte sie ihnen nur sagen? Gleich hinter den beiden Menschen erschienen sowohl Dareios als auch Lajos und Ersilia. Sie fühlte sich von fragenden Augenpaaren umringt. Selbst das Geistermädchen war hier. Es kam auf sie zugeschwebt und streckte eine Hand nach Elias schlaff herunter hängendem Arm aus.
„Er lebt noch", stammelte Milica unbeholfen, um die schlimmsten Befürchtungen zu zerstreuen. „Er ist ins Wasser gefallen, mehr weiß ich nicht."
Unter ihr begann sich eine Pfütze zu bilden. Während alle sie immer noch anstarrten, schwirrten Signora Manfridi und das restliche Hauspersonal emsig um sie herum. Sie entzündeten ein Feuer im Kamin, brachten trockene Tücher und Decken und die Luft war auf einmal vom ekelhaften Geruch nach Kamillentee erfüllt. Sie ließ Elia auf die gepolsterte Bank in der Bibliothek sinken, auf der schon vorsorglich Decken ausgebreitet lagen.
„Es tut mir leid", sagte sie, als Annalisa gleich darauf neben ihr auftauchte. „Ich wollte das nicht, ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen." Doch Annalisa schüttelte nur den Kopf, während sie eines von Juliens alten Nachthemden von Signora Manfridi entgegennahm.
„Sie haben ihn doch aus dem Wasser gerettet. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll!"
„Danken Sie nicht mir", antwortete Milica schnell, während sie sich mit vereinten Kräften bemühten, dem Jungen die eisig an seinem Körper klebenden Kleider abzustreifen. Wie sollte sie das nur erklären? Sie konnte schlecht erzählen, dass Sirenen Elia aus dem Wasser gerettet hatten, nachdem er sich wie in Trance in die Lagune hatte fallen lassen. Annalisas Mann machte immer noch einen überforderten Eindruck. Milica bezweifelte, dass seine Frau ihm genau erzählt hatte, was sie über dieses Haus und dessen Bewohner wusste?
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...