15. Kapitel (1/4) - Ein neuer Abend

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Milica schlug die Augen auf. Juliens Hand lag immer noch in ihrer. Unbewusst strich sie ihm über den vertrockneten Handrücken. Sie setzte sich auf und rückte ein wenig an ihn heran. Sie hob seine Hand von der Bettdecke auf und umschloss sie mit ihren Händen. War es nur Einbildung oder fühlte seine Haut sich wirklich etwas weicher an?

„Keine Angst, mein Lieber", flüsterte sie. „Dieser grässliche Zustand ist bald vorbei. Stell dir vor, halb Venedig ist unterwegs, um dir zu helfen. Geheime Bruderschaften, die Sirenen und sogar die Alten sind hier, hättest du das geglaubt?" Vermutlich war es nicht die Hauptsorge dieser Leute Julien zu erlösen. Aber das hatte ihn im Moment nicht zu interessieren. Sie wollte ihm gerne erzählen, dass alle nur wegen ihm gekommen waren. Und irgendwann würde der Moment kommen, an dem er erfuhr, was wirklich dahinter steckte. Hoffentlich kam dieser Moment.

„Annalisa ist auch hier", fügte sie dann noch hinzu und fragte sich, was er dazu sagen würde, wenn er könnte. „Sie macht sich auch Sorgen um dich. Aber das muss sie gar nicht, nicht wahr?" Sie strich ihm vorsichtig über die brüchigen Haare, die kaum noch Halt in der Kopfhaut fanden, sie sammelte einige der über den Kopfpolster verstreuten Haarbüschel auf. Sie wollte nicht, dass seine ausgefallenen Haare das Erste war, das er sah, falls er irgendwann aufwachte. Ob er ihre Berührungen spürte? Wie fühlte sich das hier an für ihn? Schlief er, oder bekam er mit, was rundherum vor sich ging?

Als sie seine Wange streichelte, war ihr, als bemerkte sie so etwas wie ein Zucken in seinem Unterkiefer. Bildete sie sich das nur ein?

„Spürst du das?" fragte sie aufgeregt. „Hast du vielleicht Hunger? Wenn du was trinken kannst, dann bitte, bitte tu es ..." Sie schob sich den Ärmel hoch und biss sich mit den scharfen Zähnen herzhaft ins Handgelenk, sodass etwas Blut heraustropfte. Mit der anderen Hand schob sie seine Lippen etwas auseinander und hielt die blutende Hand darüber. Es tropfte nur ganz langsam, falls er überhaupt etwas trinken konnte, dann vielleicht nur wenig, aber es wäre ein Anfang. Selbst wenn es ihr gelang, ihn aus diesem Zustand zu wecken, dann war er gewiss so ausgetrocknet und kraftlos, dass er sich kaum bewegen konnte. Tatsächlich hatte sie den Eindruck, als rührten sich seine Lippen ein wenig und als nähme er das Blut in sich auf. Nach einer Weile bildete sich ein kleines Rinnsal an seinem Mundwinkel. Anscheinend hatte er jetzt genug.

„Gut so," sagte sie. „Das machen wir so oft bis du wieder der Alte bist." Ihre Stimme klang optimistisch und sie war der festen Überzeugung, dass alles gut werden konnte. Die Ombreibrüder würden kommen und ihm helfen, er würde mehr Blut trinken und dann konnten er und Elia mithelfen, Cassandra zu finden. Ende gut alles gut.

Draußen war es noch dämmrig und auch heute fühlte Milica sich unersättlich. Kein Wunder, gestern war eine anstrengende Nacht gewesen, und wer wusste schon, was heute auf sie zukam. Außerdem musste sie für Julien ebenfalls etwas übrig haben. Es dauerte eine ganze Stunde und nachdem sie drei Sestieri abgeklappert hatte, fühlte sie sich ausreichend gestärkt, um zurückzukehren. Ihr erster Weg führte sie abermals zu Julien. Tatsächlich schien er schon wieder Durst zu haben. Er gab ein klägliches Krächzen von sich, als sie ihre Hand an seine Lippen führte. So einen gequälten Laut hatte sie noch nie von ihm gehört, aber es war ein Lebenszeichen. Alles war besser als nichts. Sie küsste ihn glücklich auf die Stirn und versprach ihm so bald wie möglich, wieder nach ihm zu sehen.

Nun musste sie aber wissen, was die anderen machten und, ob sich irgendetwas Neues ergeben hatte. Im Flur brannten Kerzen, und kaum hatte sie sich bemerkbar gemacht, da tauchte auch schon Signora Manfridi auf.

„Wo sind alle?" fragte Milica. „Sind Annalisa und der Junge noch da?"

Signora Manfridi seufzte und schüttelte den Kopf.

„Sie sind noch da, aber der Junge ...", sie senkte die Stimme ein wenig. „Mir scheint, er ist vollkommen schwachsinnig geworden. Er sitzt und starrt vor sich hin oder brabbelt komisches Zeug. Schrecklich. Die arme Mutter. Er war so ein hübscher und gescheiter Kerl, aus dem wäre noch was geworden, das schwöre ich Ihnen. Jammerschade um ihn."

„Wo ist er?"

„Im Schlafzimmer, seine Mutter ist noch bei ihm. Die Herren und die Signora sind mit der Gondel ausgefahren, sie wollten irgendeinen Besuch abholen."

Milica nickte und nahm an, sie würden bald mit den Ombreibrüdern ankommen, also machte sie sich auf den Weg in das Schlafzimmer in dem Annalisa und Elia einquartiert waren.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt