Die Wellen plätscherten nun lauter an Hausmauern und Bootsrümpfe und der Geruch nach Algenschlamm und abgestandenem Wasser war intensiver geworden. Sie waren also wieder in der Stadt. Ohne aus dem Fenster zu spähen konnte Milica anhand von Geräuschen und Gerüchen erraten, durch welche Kanäle sie fuhren und es dauerte nicht lange, bis sie in den Wasserkanal des Palazzo einbogen und dort aussteigen konnten. Ersilia und Lajos stiegen sogleich die Treppe hinauf, und Milica folgte ihnen. Sie beeilte sich, sie einzuholen, sodass sie schließlich als erste in den Salon trat. Zu ihrer Überraschung saß dort nicht Dareios, sondern Elia auf einer der Bänke. Und sie bemerkte beim Eintreten aus dem Augenwinkel das Hinforthuschen eines halb durchsichtigen Wesens. Das Geistermädchen war natürlich sofort geflohen, als es Lajos und Ersilia witterte. Die Beiden schienen der Kleinen nicht geheuer zu sein und das verstand Milica nur zu gut.
Elia kauerte auf dem Sofa und starrte die drei mit ausdruckslosen Augen an. Wie zu erwarten kommentierten Ersilia und Lajos die Anwesenheit des Jungen mit keinem Wort. Doch sie musterten ihn kurz von oben bis unten und wechselten dann einen Blick, der bedeuten mochte: „Das ist er also, der Bastard." Sie wussten schließlich von dessen Existenz und sie waren damals nicht im Geringsten einverstanden gewesen. Milica versuchte trotzdem, ein unbefangenes Lächeln aufzusetzen und den Jungen zu begrüßen. Er wirkte verstört genug. Bis jetzt hatte er kein einziges Wort herausgebracht, da musste man ihn nicht zusätzlich verschrecken.
„Guten Abend, Elia", sagte sie und sie konnte sehen, dass sein Gesichtsausdruck sich ein wenig entspannte. Er sah müde aus und seinen Augen hatten einen stumpfen Blick, der ihr nicht gefiel. „Ich hoffe, du wartest noch nicht lange."
Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich weiß nicht. Ich soll dir von Dareios ausrichten, dass er weggegangen ist, aber bald wieder da sein will."
Milica bedankte sich und verfluchte Dareios innerlich einmal mehr. Sie hatte gehofft, dass er hier sein würde, wenn sie mit dem Besuch eintraf. Sie überlegte kurz.
„Ich nehme an, ihr wollt ihn sehen?", fragte sie die beiden schließlich, und sie antworteten mit einem ernsten Nicken.
„Elia, du schaust müde aus, möchtest du nicht nach Hause gehen und dich ausschlafen? Ich verspreche dir, ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß." Der Junge nickte nur leicht und sie verließ das Zimmer, um die Besucher zu Juliens Schlafkammer zu führen. Sie traten durch den Schrank hinein, und ein schwacher Lichtschein fiel vom Gang in den Raum, in dem Julien nach wie vor unbeweglich und ausgetrocknet in der Dunkelheit lag. Sie setzte sich neben ihn und nahm seine knochige Hand in ihre, in der Hoffnung irgendetwas spüren zu können, irgendeine Regung, etwas das auf Leben hindeutete, doch da war nichts. Vielleicht war sie einfach zu nervös, um etwas zu spüren. Lajos und Ersilia begannen sich ihn anzusehen, sie kniffen in seine papierene Haut, begutachteten seine Zähne, die beinahe komplett frei lagen und wie lange Fänge aus dem kaum noch vorhandenen Zahnfleisch ragten. Schließlich zogen sie ihm auch den Rock und das Hemd aus, wohl um das volle Ausmaß der Misere begutachten zu können. Dabei sah Milica, dass einige Haarbüschel auf dem Kopfkissen liegengeblieben waren. Fielen seine Haare denn aus? Oder waren sie abgebrochen? Ihm, der sich immer sonstwas auf seine Haare eingebildet hatte. Er, der bei seinem wunderbar glänzenden Haupthaar keine Perücke nötig hatte. Milica beobachtete das jämmerliche Schauspiel und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das aufwühlte. Sie kämpfte mit den Tränen, als Lajos unerwartet die Stimme erhob.
„Die Ombrei", sagte er nur, und Ersilia antwortete:
„Ja. Es lag in der Luft."
„Was?", fragte Milica mit belegter Stimme. „Was lag in der Luft?"
„Wenn Dareios zurück ist", gab Lajos knapp als Antwort. Nur kein Wort zu viel. Nur nichts erklären.
„Warum bringst du uns nicht in die Bibliothek und zeigst uns das unselige Druckwerk, von dem du gesprochen hast", fragte Ersilia. Milica seufzte und nickte. Sie hatten eine Idee und das war ein Anfang. Irgendetwas würde schon geschehen, wenn Dareios wieder zurück war. Also verschlossen sie den Zugang zu Juliens Kammer und folgten dem Gang in die Bibliothek.
Der Lesetisch war leergeräumt, und die Bücher, in denen Julien an seinem letzten Abend gelesen hatte, lagen gestapelt auf einem der Sessel. Die französischen Grammatiken und das gewichtige Wörterverzeichnis der Académie Française. Es sah aus, als hätte Dareios den Tisch selbst verwendet und Juliens Bücher nur schnell zur Seite geräumt. Doch seine eigenen Bücher hatte er fortgeräumt. Wie er es immer tat, damit man ihm nur nicht in die Karten schauen konnte. Sonst war ihr meistens egal, was er las, aber diesmal hätte es sie interessiert nachvollziehen zu können, wonach er gesucht hatte. Milica nahm den Bücherstapel auseinander und fand das schmale Geschichtenbändchen zuunterst.
Lajos nahm es mit spitzen Fingern entgegen und befühlte das billige Papier, auf dem es geduckt war, als hätte er nie Minderwertigeres in Händen gehalten. Er durchblätterte es rasch, überflog die eine oder andere Überschrift und ließ es dann wieder auf den Tisch fallen, als sei es etwas Schmutziges, das womöglich hässliche Flecken hinterließ, wenn man es zu lange in der Hand hielt.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Schund irgendwas mit unserer Angelegenheit zu tun haben könnte", sagte er dann. Ersilia griff ebenfalls nach dem Buch und begann die eine oder andere Geschichte anzulesen. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln. So als amüsierte sie das Ganze ein klein wenig.
„Es hat vielleicht nichts damit zu tun", sagte sie schließlich. „Oder sagen wir: Unsere Sache hat mit diesen Geschichten nichts zu tun. Es liegt auf der Hand, dass der Mensch, der sie festgehalten hat, kaum geahnt haben kann, was er da schreibt. Dennoch muss es sich um einen scharfen Beobachter gehandelt haben, oder einen guten Zuhörer. In der Tat erinnere ich mich an einige dieser Erzählungen aus meiner Kindheit. Vieles davon erzählt man sich seit unsagbar langer Zeit. Und einiges scheint neueren Datums."
„Ammenmärchen. Sagte ich doch", gab Lajos säuerlich zurück und Milica hoffte noch inständiger, Dareios würde bald zurückkehren. Was hatte er gerade heute draußen zu erledigen? Er wusste doch, dass sie mit den Alten hier auftauchen würde.
Ersilia las immer noch, doch nun schien sie etwas entdeckt zu haben, das sie überraschte. Ihre Augenbrauen wanderten kaum merklich in die Höhe und Milica fand es tröstlich, dass es etwas gab, das die Alten noch verblüffen konnte. Ersilia reichte Lajos noch einmal das Buch, er blickte hinein und als er wieder aufblickte, sah er noch verärgerter aus. Es wirkte, als hätte sich die Farbe seiner Augen verdunkelt.
„Wo sind die staatlichen Inquisitoren, wenn man sie braucht? So etwas gehört aus dem Verkehr gezogen. Wo ist dieser Unsinn überhaupt her?"
„Keine Ahnung", antwortete Milica beinahe wahrheitsgemäß. Sie hatte nicht vor den armen Buchhändler in die Schusslinie der alten Vampire zu bringen. Der war vermutlich der Letzte, der etwas dafür konnte.
„Naja, mit etwas Glück wurde der Mann ohnehin längst verhaftet."
Bestimmt hatten sie beiden die Geschichte von den unsterblichen Magiern entdeckt, mit der sie natürlich selbst gemeint waren. Und Lajos fand das ebenso wenig amüsant wie Dareios. Nur Ersilia schien es weiterhin als harmlos zu betrachten. Milica nahm sich vor, das Büchlein bei Gelegenheit eingehender zu studieren. Wenn die anderen ihr nicht verrieten, worum es hier ging, vielleicht brachte die Lektüre dieser Legenden doch etwas Aufschluss. Vermutlich würden diese Geschichten jedoch noch mehr Fragen aufwerfen.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Ficción históricaVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...