1. Kapitel (3/3) - Die Musik auf dem Wasser

121 19 3
                                    

Die Fahrt zum Teatro San Dionisio führte durch enge Kanäle und an steilen, von Rissen durchzogenen Hausmauern entlang. Der Lichtschein der Laterne, mit der die Gondel ausgestattet war, zitterte auf den winzigen Wellen und und war zeitweise die einzige Lichtquelle. Nur wenn wir unter einer der kleinen Brücken hindurchfuhren und dabei eine Gasse kreuzten, spiegelte sich für einen Augenblick die Straßenbeleuchtung im Wasser. Wir hatten uns vom geschäftigen Treiben der breiteren Kanäle entfernt und bewegten uns auf diskreten Wegen durch das für Uneingeweihte labyrinthartig erscheinende Netz aus Wasserstraßen.

Ich ließ mich neben den Kindern auf einem der weichen Sitzkissen in der hölzernen Kabine nieder und zog mir meinen Mantel enger um die Schultern.

„Ich frage euch noch einmal: Wie seid ihr auf den Gedanken verfallen, ausgerechnet meinen Dachboden zu erforschen." Es war so still, dass es ungehörig schien sich anders, als im Flüsterton zu unterhalten. Die beiden in Decken gewickelten Gestalten sahen einander an und zuckten beinahe gleichzeitig mit den Schultern.

"Ich weiß es auch nicht," sagte Elia. "Wir dachten, du würdest nicht allzu böse sein."

Ich schnaubte kurz durch die Nase. Böse? Ja, was sollte man denn mit zwei herumstreunenden Lümmeln machen? Es konnte mir egal sein, auf welchen Dachböden sie sich herumtrieben, doch war mir daran gelegen zu vermeiden, dass sie in unserem Haus ungewollt Zeugen von Vorgängen wurden, die sie nur unnötig verstören würden und, die ich ihnen unter keinen Umständen genauer erklären wollte.

„Ihr hättet fragen können. Geht ihr denn ständig in die Häuser anderer Leute?"

„Kommt vor", sagte Elia kurz angebunden. Das hieß also: ja. Und was konnte ich ihm für einen Vorwurf daraus machen? Als mein Sohn war er mit Intelligenz und Neugier gesegnet. Wenn seine Mutter nicht besser auf ihn aufpasste, war es kein Wunder, wenn er die Welt auf eigene Faust erkundete. Zusammen mit der kleinen Schwester. Oder hatte die ihn angestiftet? Aus dem Mädchen war im Moment kein Wort herauszukriegen. Es schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Cassandra hatte die Ellbogen auf den Rand des Kabinenfensters gestützt und die Augen aufs Wasser gerichtet, als gäbe es da etwas besonders Interessantes zu entdecken.

Wir bogen gerade in einen der breiteren Kanäle, der eine direkte Verbindung zur Lagune bildete. Aus den Fenstern mancher Häuser drang noch ein Lichtschein und als ich meinen Blick nach der Lagune richtete, sah ich weiter draußen einige Lichter flackern. Sie leuchteten wohl von der Insel Murano zu uns herüber. Gleichzeitig war mir, als hörte ich eine ferne Musik an mein Ohr dringen. Zuerst vermutete ich, sie käme aus einem der Häuser, doch je weiter wir diese hinter uns ließen und je dichter wir uns der Lagune näherten, desto deutlicher wurde die Musik.

„Hört ihr das?"

„Hm ...", machte Cassandra und wiegte ihren Kopf im Takt der seltsamen Weise.

„Wunderschön," sagte Elia. „Aber was ist das? Es klingt nach keinem Musikinstrument, das ich kenne."

Allerdings nicht. Das Gewebe aus Tönen erklang nun immer dichter und deutlicher. Ausgewogen wie ein vielstimmiges Orchester, doch es war kein Orchester. Nur der Gondoliere schaute uns ratlos an.

„Ich höre keine Musik", erklärte Georgio. „Kindern sollte man nicht zu viel Wein geben."

Banause, dachte ich.

„Folgen sie dem Kanal in Richtung Lagune", wies ich ihn an, die vorgesehene Route zu ändern. Diese Musik interessierte mich. Seit meiner Verwandlung vor etwa fünfzehn Jahren, konnte ich manches spüren, das mir davor verborgen geblieben war. Dennoch war ich mir sicher, dass ich lediglich an der Oberfläche meines Potentials kratzte. Hier in Venedig gab es Geheimnisse, von denen ich trotz allem nicht die verschwindendste Ahnung hegte. Gleichzeitig fragte ich mich, warum zwei absolut diesseitige Kinder, ohne jeglichen Bezug zur Welt des Okkulten etwas spüren konnten, das sich mir nie zuvor offenbart hatte. Vielleicht musste man genug Zeit in der Stadt verbracht haben, oder man musste hier geboren sein. Oder war es etwas ganz anderes?

Vor uns zeichnete sich nun die Silhouette des ehemaligen Jesuitenklosters am Nachthimmel ab. Wir glitten unter der letzten Brücke hindurch und erblickten die, sich vor uns ausbreitende, Wasserfläche. Direkt vor uns lagen die Klosterinseln San Michele und San Cristoforo und dahinter leuchteten schwach die Lichter von Murano. Ich konnte deutlich den Campanile und die Umrisse der Häuser erkennen.

Die Nacht war sternenklar, doch die, sich im Wasser spiegelnden Lichter, konnten keine Sterne sein. Das war etwas anderes. Linien, Ringe und Punkte. Es schien, als ergäben sie ein Muster. Als hätte jemand etwas mit Licht auf das Wasser geschrieben. Doch die sanften Bewegungen der Wellen zerrissen das Bild immer wieder. Die feinen Lichtlinien verschwanden manchmal und tauchten dann an einer anderen Stelle der Lagune wieder auf. Der Klang war hier am deutlichsten zu vernehmen und wir erkannten, dass er aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien. Als entströmte er der uns umgebenden Luft. Eine getragene und doch federleichte Melodie, die wie von geisterhaften Musikanten gespielt, über unseren Köpfen schwebte. Ich befahl Georgio, dem Gondoliere, ein Stück am Kai der Fondamente Nove entlang zu fahren, wies ihn jedoch an mit dem Riemen vorsichtig zu hantieren, um unseren Hörgenuss nicht durch Wassergeplätscher zu trüben. Etwas widerwillig gehorchte er. Er schien mich einmal mehr für einen recht exzentrischen Dienstgeber zu halten.

Ich erhob mich von meinem Platz und verließ die Kabine, um bessere Sicht über die Lagune zu erlangen. Elia tat es mir nach. Wir standen nebeneinander, beobachteten das Spiel der Lichtlinien auf dem Wasser und lauschten stumm der wunderbaren Musik.

„Das könnten Noten sein", sagte Elia nach einer Weile. Ich legte den Kopf ein wenig schief und studierte die regelmäßigen Linien, auf denen sich die Punkte bewegten. Tatsächlich schien es mir möglich, dass es sich um Noten handeln konnte. Sehr passend. Im Wasser schwimmende Noten, die eine himmlische Musik spielten. Ein schöner Gedanke.

Wir kletterten erst zurück auf unsere Sitzbänke, als wir uns bereits wieder in den engen Kanälen der Stadt befanden und die Musik der Lagune nur noch schwach zu hören war.

Wir hatten nun einen Umweg genommen und die Fahrt zum Theater dauerte länger als zuerst gedacht. Doch Elia und Cassandra kamen nicht allzu oft in den Genuss einer Gondelfahrt und schienen dies als Abschluss ihres Abenteuers sogar zu genießen. Zudem hatten sie es bestimmt nicht eilig, ihrer Mutter zu erklären, wo sie gewesen waren.

In der Gegend des Theaters wirkte die Stadt wieder belebter. Menschen liefen durch die engen Gassen und aus dem einen oder anderen Palazzo drangen Licht und Musik. Doch keines dieser irdischen Musikstücke ließ sich mit der wunderbaren Melodie vergleichen, die wir in der Lagune vernommen hatten.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt