Kapitel 35

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Ich sollte Glück haben. Nye verschwand, wie bereits an den Tagen zuvor, mit gestresster und besorgter Miene frühmorgens aus dem Haus. Scheinbar lief es im Geheimdienst momentan nicht so gut, denn er wirkte völlig überanstrengt. Kein Wunder...

Na ja, so hatte ich immerhin sturmfrei. Und das nutzte ich auch. Keine Viertelstunde, nachdem Nye zur Arbeit verschwunden war, zog auch ich meine Schuhe und Jacke an. Nye rechnete wohl nicht damit, dass ich 'ausbrach', denn direkt neben der Tür hing der Haustürschlüssel. Also war Nye vermutlich mit dem Zweitschlüssel unterwegs. So konnte ich die Haustür aufschließen und hinter mir auch wieder abschließen. Praktisch, praktisch...

Ich brauchte trotz meiner ziemlich großen Orientierungsschwierigkeiten nicht lange, um zu wissen, in welche Richtung ich gehen musste. Also ging ich gemächlich den Feldweg entlang. Links und rechts von mir blühten einige Bäume und die Sonne leuchtete durch die vereinzelten Blätter. Eine Ruhe herrschte hier, die nur ab und zu von vereinzeltem Vogelgezwitscher unterbrochen wurde. Sonst war hier alles still. Ein wundervolles Gefühl.

Bald darauf hatte ich schon den Waldrand erreicht. Von hier aus war es mir bereits möglich über ein paar Äcker, Felder und Wiesen hinweg das kleine Dorf zu sehen. Ich stapfte hocherfreut über meine scheinbar besser gewordenen Orientierungskünste den Straßengraben der Landstraße entlang. Felder um Felder reihten sich zu meinen Seiten, bis ich schließlich die ersten vereinzelten Häuser erreichte. Nicht mal auf die Suche der Kirche und der dort stehenden Bushaltestelle verschwendete ich viel Zeit. Der Kirchturm ragte so unübersehbar über die Häuser hinweg, dass selbst ein Blinder den Weg gefunden hätte. Nur ein paar Mal lief ich in eine Sackgasse, bis ich schließlich am Marktplatz, direkt vor der für dieses Dorf viel zu imposanten Kirche, ankam. Gelangweilt wartete ich auf den Bus. Eine halbe Ewigkeit stand ich mir dort die Beine in den Bauch, in der Hoffnung, dass der Bus irgendwann noch eintrudeln würde. Je länger ich nichts zu tun hatte, desto nervöser wurde ich. Auch, wenn ich Ted eigentlich ja gut kannte. Eigentlich. Immerhin hatte ich achtzehn Jahre kang mit ihm in einem Haus gelebt und ihn für meinen Vater gehalten. Aber es war so viel zwischen uns vorgefallen...Ich hoffte, dass unsere Beziehung dieselbe geblieben war. Selbst mein kleiner Pausensnack, ein Brötchen mit Nussnougatbelag, konnte mich nicht von meinen Sorgen ablenken.

Zum Glück kam dann wirklich irgendwann der Bus und ich konnte aufhören mich selbst verrückt zu machen. Er fuhr mit einem Brummen und Rattern über die Pflastersteine hinweg zu mir an die Bushaltestelle. Ich stieg ein und bezahlte dem untersetzten Busfahrer das Bustcket, bevor ich mich anschließend den engen Gang des Busses entlangquälte und mich auf dem staubigen Sitz eines Zweierabteils niederließ. Außer mir befand sich nur eine alte Frau im Bus.

Der Busfahrer fuhr wieder los und der Bus fing an laut zu dröhnen. Die Sitzplätze wackelten und klapperten herum, doch selbst die alte Frau schien es nicht zu stören. Also hielt ich meinen Mund und unterließ es den Busfahrer zu fragen, wann der Bus das letzte Mal in Reperatur gewesen war.

Schnell hatten wir das Dorf verlassen und tuckerten die Landstraße entlang. Wir durchquerten noch einige Orte, in denen ein paar wenige Leute aus- und einstiegen, bis endlich der Namen der Stadt Aberdare in der kaputten Anzeigetafel des Busses aufflimmerte. Ich drückte erleichtert auf den Knopf, um dem Busfahrer zu signalisieren, dass ich aussteigen wollte.

Irgendwo in der Innenstadt hielt der Bus dann auch an und ich verließ so schnell wie möglich diese Klapperkiste. Die Bushaltestelle befand sich in einer Einkaufsstraße, in der links und rechts bunte Schaufenster leuchteten, während die Menschen mit Einkaufstüten an ihnen vorbeischlenderten. Das hier war definitiv KEIN Wohnviertel und ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich Teds Wohnung finden sollte. Wunderbar! Jetzt hatte ich doch tatsächlich meine Fahrt BIS nach Aberdare geplant, wusste allerdings nicht, wie ich mich dort zurechtfinden sollte! Wie war das nochmal, dass mein Orientierungssinn heute ausnahmsweise gut war? Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben!

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