Kapitel 38

9.1K 538 21
                                    

Ängstlich kauerte ich mich auf der Rückbank des Wagens zusammen. Mein Herz pochte so wild, als wolle es im nächsten Moment aus meiner Brust springen. Ich hatte Angst, nackte Angst. Vor dem, was heute unweigerlich noch geschehen würde. Und noch viel mehr vor dem, was mit MIR geschehen würde, wenn sich Nye und Mr Smith nicht an Jacks Auflagen hielten. Davon war nämlich leider auszugehen.

Vor einer Viertelstunde hatte Sinan mich aus meinem Zimmer geholte und in die Limousine geschleppt, welche bereits gewartet hatte. Und nun saß ich gegenüber von Jack, neben Sinan, während wir durch die Stadt chauffiert wurden. Es war kein angenehmes Gefühl. Ich wagte kaum mich zu Rühren.

Durch die getönten Scheiben der Limousine konnte ich das Licht der vobeiziehenden Straßenlaternen erkennen. Anfangs war es ganz hell und regelmäßig gewesen, doch mittlerweile erkannte ich nur noch in ungleichen Abständen leichte Lichtschatten.

Irgendwann, mein Zeitgefühl hatte sich schon lange verabschiedet, hielten wir an. Uns wurde die Tür geöffnet. Begleitet von Jack und Sinan stolperte ich aus dem Wagen. Wir befanden uns in einer dunklen Seitenstraße, in welche die Limousine kaum hineinpasste. Links und rechts erkannte ich die bröckligen Wracks heruntergekommener Häuser. Ziegelsteine, Metallkanister und anderer Schmutz und Geröll lag auf der Straße, die einzig von einer nackten Glühbirne beleuchtet war, welche mit einem schiefen Pfahl in der Hauswand gehalten wurde.

Ich wusste nicht wo wir waren, doch ich vermutete in irgendeinem alten Stadtviertel mit einsturzgefährdeten Häusern.

Zielsicher bahnte sich Jack einen Weg durch den Dreck. Er schien hier nicht das erste Mal zu sein. Ich folgte ihm hastig, versucht den besten Weg durch das Geröll zu finden. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte war, dass ich in einer der Straßen verloren ging. Von hier zurückzufinden wäre ein unmögliches Unterfangen gewesen, zumal mich Jack sowieso nicht einfach so davon spazieren lassen würde.

Immer weiter bewegten wir uns die Straße entlang. Und je weiter wir gingen, desto enger wurde der Abstand zwischen den Häuser und desto größer wurden die Geröllstücke. Einmal versperrte mir sogar ein ganzer Zementblock den Weg. Er war aus einer Hauswand hinausgebrochen. Jack erklomm ihn mühelos und so elegant wie eine Raubkatze. Ich, die weniger sportlich war, musste mich in einer einzelnen Rille festkrallen und versuchen mich hochzuwuchten. Meine Finger schmerzten und brannten. Vergebens suchte ich nach einem Tritt für meine Füße. Sie rutschten immer und immer wieder ab.

Schließlich half mir Jack kopfschüttelnd hoch, wohlwissend, dass ich den Klotz nicht in naher Zukunft überwunden hätte. Vermutlich nicht einmal in ferner Zukunft.

So ging das dann immer weiter. Wir bogen in weitere noch finsterere Gassen ein, in welchen Jack uns mit einer Taschenlampe (wohlgemerkt einer Markentaschenlampe) den Weg leuchtete. Trotzdem konnte man kaum erkennen, wohin man trat. Mehr tastend, als gehend, bewegten wir uns so vorwärts, bis Jack schließlich vor einem Gullideckel stehenblieb. Er war im Gegensatz zum Rest des Bodens frei von Schmutz, Steinen und Müll.

Jack packte den Deckel und hob ihn mit einem Schnaufen beiseite. Dann verschand er mit geschickten und trainierten Bewegungen in dem schwarzen Loch. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Dennoch war klar, ich musste ihm folgen. Wenn nicht würde Sinan, der sich direkt hinter mir positioniert hatte, wohl oder übel dafür sorgen.

Zögernd trat ich an den Rand des schwarzen Abgrunds. "Nun geh schon!", drängte Sinan hinter mir, "Oder soll ich dir nachhelfen?!" Ich hörte den Spott in seiner Stimme deutlich heraus. Eiskalt lief es mir den Rücken runter.

"I...Ich geh...", krächzte ich und setzte mich hin. Mit meinen Füßen angelte ich hilflos nach einem Halt. Irgendwie fand ich die oberste Leitersprosse. Zaghaft stellte ich mich auf die Beine und krallte mich im zerbröckelten Straßenbelag der Gasse fest. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf. Bilder von mir mit gebrochenem Genick am Boden der Röhre.

Beinahe wäre ich umgedreht, doch Sinan würde mich wohl kaum so einfach gehen lassen.

Ich biss meine Zähne aufeinander und setzte langsam meinen Weg fort. Ein zögerlichen Schritt nach dem anderen setzte ich untereinander. Meine Hände umklammeren die kalten Metallrohre der Leiter.

Immer tiefer gelangte ich auf diese Art und Weise. Die Luft wurde kühler und ich fröstelte, trotz meiner Jacke.

Als ich schließlich den glitschigen Boden erreichte, keuchte ich vor Erleichterung auf. Ich wollte mich umsehen, doch Jack zerrte mich ohne ein Wort in eine andere, horizintale Röhre. Ich krabbelte unsicher hinter ihm her. Ein Rinnsaal kaltes Wasser umspülte meine Hände und Knie und ich fühlte den Moos und die Feuchtigkeit unter mir. Ekel erfasste mich.

Wir - Jack, ich und mittlerweile auch Sinan - bogen an unzähligen Abzweigungen ab. Irgendwann gab ich es auf, mir merken zu wollen, woher wir kamen und krabbelte nur noch hinterher. Es war ein Irrgarten aus kalten und glitschigen Rohren. Ab und zu betraten wir kleinere Höhlen und Bunker, doch die meiste Zeit bewegten wir uns gebückt durch die Kanalisation. Und langsam wurde mir klar: Ein Entkommen gab es hier nicht. Ich war auf Jack und Sinan angewiesen.

Irgendwann, ich hatte keinen blassen Schimmer, wie lange wir bereits unterwegs waren, kamen wir schließlich in einem größeren Bunker an. Jack und Sinan hielten an. Meine Hände waren bereits taub von der Kälte, die hier herrschte, und meine Hose war komplett durchnässt.

Jack blickte sich zufrieden um. "Der perfekte Ort für den perfekten 'Handel'.", sagte er selbstzufrieden. Mein Magen verkrampfte sich und wieder fühlte ich die Angst durch meine Adern fluten. Wie eigentlich schon die ganze Zeit.

Um mich abzulenken musterte ich den Bunker. Er war so dunkel, dass ich weder die Seitenwände, noch die Decke sehen konnte. Fakt war, dass es hier groß sein musste. Sehr groß sogar. Der Geruch nach abgestandenem Wasser und Moder lag in der Luft. Es war alles andere als ein 'perfekter' Ort.

"Zeit, dich in dein Versteck zu bringen.", wandte sich Jack fröhlich an mich, "Du kommst auf mein Handzeichen hervor.", schärfte er mir ein. Dann gab er Sinan ein Signal. Dieser schleifte mich unwirsch hinter einen Stapel Säcke, der mir bisher nich nicht einmal aufgefallen war. Er verbarg sich ganz am Rande der Höhle in der Dunkelheit.

Sinan machte es sich mit einer Pistole, deren Lauf wohlgemerkt auf mich gerichtet war, auf einem Sack bequem. Ich setzte mich auf das Leinen eines leeren Sacks und zog meine Beine an. Mein ganzer Körper zitterte und bebte. Ob vor Angst oder vor Kälte, konnte ich selbst nicht sagen. Beides, vermutlich. Und obwohl ich nicht abrutschten zu drohte, klammerte ich mich an einem Sack fest, als wäre er mein letzter rettender Stein in der Brandung. Ich hatte Angst, fürchterliche Angst. Angst um das Leben meiner Mutter, Angst um das Leben von Nye und Mr Smith und Angst um mein eigenes Leben. Alles stand auf dem Spiel. Doch ich hatte es nicht in der Hand. Das Leben von uns allen hing von einem Menschen ab. Von meinem eigenen Vater. Und dieser genoss es sichtlich derjenige zu sein, der am Steuerhebel saß.

Die Zeit verging. Tropfen platschten in regelmäßigen Abständen auf den Boden. Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen, doch das sich immer wiederholende Platschen gab mir ein Gefühl von Regelmäßigkeit. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ganz im Gegensaz zu Sinan. Dieser wachte wie ein gieriger Köter über seine Beute. In diesem Fall: Mich.

Schließlich, und ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte erlöst zu werden, oder nicht, hörte man näher kommende Schritte. Ich versteifte mich. Meine Atmung wurde schnappend. Ich wusste, jetzt wurde es ernst. Richtig ernst.

"Ja, mein liebes Töchterlein, jetzt geht der Spaß los.", hörte ich Jacks Stimme aus der Dunkelheit. Ich wusste, er hatte Recht. Gleich würde es losgehen. Gleich würde über mein Leben entschieden werden. Und vermutlich nicht nur über meines...

Ich spürte keine Erleichterung über das Auftauchen meiner Mum. Irgendetwas sagte mir, vermutlich mein Insinkt, dass der Tausch nicht ganz so glatt ablaufen würde, wie geplant. Und mein Instinkt täuschte sich nur selten...

Personal AgentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt