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"Ich brauch einen Ort, wo ich die nächsten Wochen pennen kann."

"Wieso?" Jannis kratzte sich verlegen an der Schläfe und erinnerte mich damit unglaublich an seinen großen Bruder. "Ich bin daheim ausgezogen, weil ich mich mit Mama und Papa gefetzt hab und zu Julian will ich nicht, weil der im Moment so scheiße drauf ist." "Also dachtest du dir, du gehst einfach mal zur Exfreundin deines Bruders und fragst nach, ob du bei ihr wohnen kannst?" "Ähm, ja?", bestätigte Jannis unsicher und ich verkniff mir ein Verdrehen der Augen. "Was ist denn bei deinen Eltern und dir vorgefallen?" Genervt seufzte der Blonde und ich ahnte bereits, dass es wieder um die alte Leier ging. "Ach, das übliche. Ich soll endlich was mit meinem Leben anfangen, von Instagram kann man nicht leben und so weiter. Ich hab mein Studium abgebrochen." Überrascht riss ich die Augen auf. "Aber du liebst doch die Fotografie und wolltest es immer unbedingt studieren." "Ja, das stimmt ja auch, aber dieses ganze theoretische Zeug ist nicht so mein Ding. Ich will rausgehen und fotografieren, nicht stundenlang darüber reden, es zu tun, verstehst du?" Ich nickte leicht und musterte den Bruder meines Exfreundes mitfühlend. "Natürlich verstehe ich das, ich hab schließlich auch studiert. Aber einfach abzubrechen und zu Hause auszuziehen, ohne eine Perspektive zu haben, das ist bescheuert und naiv." "Wow, danke. Das hättest du ruhig etwas weniger direkt sagen können", entgegnete Jannis sarkastisch, aber ich ließ mich nicht unterkriegen. "Du kennst mich, ich versuche immer ehrlich zu sein und zu sagen, was ich denke. Deshalb sage ich dir einfach geradeheraus, wie ich das finde." Jannis seufzte. "Na gut, wahrscheinlich hab ich's auch nicht anders verdient. Aber zurück zu meinen Eltern kriechen ist jetzt auch keine Option." "Weil das zu sehr an deinem Ego kratzen würde? Oh man, Jannis. Du bist echt ein Held." Der junge Brandt grinste verlegen und ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln. "Also gut, du kannst hier schlafen. Aber nicht länger als eine Woche. Bis dahin hast du dir was anderes gesucht, okay?" "Okay", erwiderte Jannis strahlend und zog mich kurz in eine feste Umarmung, "danke Emily." "Schon gut, jetzt mach keine riesige Sache draus. Hast du schon zu Abend gegessen?" "Nope." "Alles klar, dann gehen wir jetzt was essen. Wer bei mir wohnt, muss auch mit mir ins Restaurant gehen." "Da musst du mich nicht lange überreden." "Aber du bezahlst", bestimmte ich schmunzelnd und Jannis nickte ergeben. "Okay." Mein Schmunzeln wurde zu einem breiten Lächeln und während wir das Haus verließen und der mittlere Brandt-Sohn mich in ein Gespräch verwickelte, wurde mir bewusst, dass ich auch ihn vermisst hatte. Zwar war ich mit Julian zusammen gewesen, hatte aber auch oft mit Jannis geschrieben. Es freute mich, dass wir unsere Freundschaft scheinbar einfach fortsetzen konnten, obwohl Julian und ich nicht wirklich im Guten auseinandergegangen waren.

"Hey Emmi!" Überrascht drehte ich mich um und spürte ein enttäuschtes Ziehen in meiner Brust. Der Spitzname erinnerte mich immer an Bernd und ich musste mich erst daran gewöhnen, dass auch Kais Freundin Sophia ihn benutzte. Die hübsche Brünette zog mich in eine kurze Umarmung und ich bemühte mich, ihr Lächeln zu erwidern und echte Freude vorzutäuschen. "Hi Sophia. Wo hast du denn Kai gelassen?" "Ach, die haben irgendeine Besprechung beim Verein wegen der neuen Saison. Ich kann gar nicht glauben, dass die Sommerpause schon wieder so gut wie vorbei ist. Am Anfang denke ich immer, wir hätten ewig Zeit und dann steht plötzlich die Hinrunde vor der Tür." "Aber Kai achtet doch ziemlich genau darauf, dass ihr auch während der Saison viel Zeit füreinander habt, oder?" Sophia nickte. "Klar, aber da hat man trotzdem im Hinterkopf, dass morgen wieder Training ist und ich hab ja auch noch ein Leben. Aber jetzt lass uns über was schöneres reden und endlich shoppen gehen! Ich brauche unbedingt ein passendes Outfit für die Feier nach dem ersten Spiel. Also, vorausgesetzt, dass Bayer gewinnt, aber davon gehe ich jetzt einfach mal aus, haha." Ich fiel in ihr kurzes Lachen mit ein und sah sie dann fragend an. "Also, wo willst du zuerst hin?" "Wie wäre es mit New Yorker? Die hatten neulich ein super schönes Kleid im Schaufenster." "Alles klar, dann los." Sophia hakte sich bei mir ein und wir schlenderten die Fußgängerzone entlang. "Sag mal, hast du eigentlich wieder Kontakt zu Julian?", fragte die Brünette plötzlich unvermittelt und ich schaute sie überrascht an. "Wie kommst du denn dadrauf?" "Als ich gestern an deiner Wohnung vorbeigefahren bin, hat gerade ein Blondschopf das Haus betreten und von hinten hätte ich schwören können, dass es Julian ist." Ich schüttelte den Kopf. "Nein, wir haben keinen Kontakt mehr. Und der Blondschopf, den du gesehen hast, war Jannis." "Jannis? Julians kleiner Bruder? Was hat der denn von dir gewollt?" "Er wohnt seit zwei Tagen bei mir. Ist eine lange Geschichte." "Dann gib mir die Kurzfassung." Ich seufzte. "Er hat sich mit seinen Eltern gestritten und ist abgehauen." "Und wieso wohnt er nicht bei Julian?" "Weil er dem erst unter die Augen treten möchte, wenn er einen Plan vorweisen kann, was er als nächstes tun wird. Ich kann ihn ehrlich gesagt verstehen, obwohl ich nie in so einer Situation war. Sein großer Bruder ist wahnsinnig erfolgreich und macht nach außen hin einen perfekten Eindruck, während Jannis seinen Platz in der Welt noch sucht. Und vor allem sucht er sich selbst und wenn ich ihm dabei helfen kann, dann tue ich das." "Ist das nicht komisch, weil du bis vor ein paar Monaten noch mit Julian zusammen warst?" Ich zuckte die Schultern, weil ich diese Frage nicht wirklich beantworten konnte. Seit Jannis vor meiner Haustür gestanden hatte, hatte ich es verdrängt, an meinen Exfreund zu denken und ihn damit in Verbindung zu bringen. "Jannis ist nicht Julian", murmelte ich bloß, woraufhin Sophia mich skeptisch musterte. "Und das ist alles? Damit ist es getan?" "Was willst du von mir hören, Sophia? Ich helfe einem Freund, der eben zufälligerweise der kleine Bruder meines Exfreundes ist. Ende der Geschichte. Und jetzt lass uns bitte das Thema wechseln und aufs Shoppen konzentrieren." Mit diesen Worten zog ich die Brünette in den New Yorker, der zu unserer Rechten erschien und in den nächsten Stunden beschränkten sich unsere Konversationen auf Klamotten und den baldigen Beginn der Saison für Sophias Freund Kai und mich. Als wir uns schließlich völlig erschöpft in einem Eiscafé eine Erfrischung gönnten und belanglos miteinander quatschten, wurde mir wiedermal bewusst, dass ich Sophia zwar sehr schätzte und mochte, sie aber meinen ehemaligen besten Freund Bernd nicht ersetzen konnte. Seit ein Telefonat vor einigen Monaten eskaliert war, weil ich Bernd in den vorangegangenen Monaten vernachlässigt hatte, hatte er nicht mehr auf meine Anrufe und Nachrichten reagiert. Ich war sogar nach England geflogen, doch der blonde Torwart hatte mir die Tür vor der Nase zugeschlagen und ich hatte akzeptiert, dass ich es wohl endgültig vermasselt hatte. Angestrengt verkniff ich mir ein Seufzen, als ich daran dachte und versuchte mich wieder auf Sopia zu konzentrieren. Ich musste dringend daran arbeiten, mehr im hier und jetzt zu leben, statt in der Vergangenheit.

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt