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Ein afrikanisches Sprichwort besagt: Langsam krümmt sich die Banane. In meinem Fall kam es mir so vor, als ob die Banane ein Stock wäre. Mittlerweile lag ich seit einer Woche auf der normalen Station, hatte mit Physiotherapie begonnen und durfte vor zwei Tagen sogar zum ersten Mal wieder mit Hilfe aufstehen. Trotzdem hatte ich das Krankenhaus satt und wollte einfach nur so schnell wie möglich nach Hause. Bernd war mittlerweile wieder zurück in England und auch Julian war gestern zurück nach Dortmund gefahren, obwohl er es so lange wie möglich hinausgezögert hatte. Die Neuigkeit, dass wir wieder zusammen waren, hatte in der Presse für Furore gesorgt, aber es gab fast nur positive Kommentare und eigentlich war es uns sowieso egal, was irgendwo geschrieben wurde. Wichtig war, dass wir uns hatten und das bewies mir Julian jeden Tag. Seit er Leverkusen verlassen hatte, schrieb er mir ständig süße Nachrichten, die dann auf dem Display meines neuen Handys aufploppten und mich zum Lächeln brachten. In diesem Moment klopfte es an der Tür zu meinem Zimmer und Karin streckte den Kopf herein. "Hey, na? Ich hab dir was mitgebracht." Mit einem verstohlenen Grinsen schloss sie die Tür hinter sich und zauberte aus ihrer Handtasche eine kleine Papptüte hervor, die sie mir gab. Neugierig sah ich hinein und machte sofort große Augen. "Oh mein Gott, ein Schokodonut! Danke, danke, danke! Der Geschmack von Schokolade hat mir so gefehlt." Genüsslich biss ich hinein und meine Mutter beobachtete mich lächelnd dabei, wie ich ihr Geschenk innerhalb kürzester Zeit verschlang. "Hattest du heute schon Physiotherapie?" Ich nickte und stöhnte genervt. "Es war extrem anstrengend und danach musste ich erstmal geduscht werden, was mit den ganzen Verbänden und Pflastern jedes Mal ein riesiger Aufwand ist." "Das glaub ich, aber es sind ja jetzt schon weniger Pflaster als noch vor einer Woche, das ist immerhin schon ein Fortschritt." Ich seufzte und nickte dann. "Mein Leben wäre schon um ein Vielfaches leichter, wenn ich endlich diese Halskrause los wäre. Aber die Ärzte wollen kein Risiko eingehen, also bleibt sie noch ne Weile dran." "Ich weiß, dass du dich durch das Teil eingesperrt fühlst, aber es ist zu deinem Besten." Ich schluckte und wich dem Blick meiner Mutter aus. "Ich fühl mich dadurch nicht nur eingesperrt. Es erinnert mich auch daran, wie Jan mich gewürgt hat. Das ist es, was ich hasse. Die Erinnerungen." Karin nickte verständnisvoll und strich mir sanft über den Arm. "Helfen die Gespräche mit der Psychologin?" "Ja, schon. Sie geht alles nochmal mit mir durch und es fällt mir bei weitem nicht so schwer, wie erwartet, darüber zu sprechen. Es fühlt sich ein bisschen so an, als ob das jemand anders erlebt hätte, den ich zwar gut kenne, der ich aber nicht bin." "Was sagt denn die Psychologin dazu?", erkundigte sich Karin interessiert und ich biss mir auf die Lippe. "Dass das ein Schutzmechanismus meiner Psyche ist. Mein Unterbewusstsein verdrängt die schlechten Gedanken, damit mein Körper heilen kann. Und sie denkt, dass sobald es mir körperlich wieder gut geht, meine Psyche offenbaren wird, wie verletzt ich innerlich bin. Deshalb soll ich auch weiterhin in Therapie gehen, wenn ich aus dem Krankenhaus raus bin." Karin nickte zustimmend. "Das klingt gut. Wirst du dann wieder zu deiner ehemaligen Therapeutin gehen, bei der du wegen der Selbstverletzung warst?" Ich zuckte die Schultern. "Keine Ahnung, vielleicht. Aber jetzt lass uns endlich mal über was anderes reden." "Gerne. Hast du mit dem Verein klären können, wie es mit deinem Gehalt aussieht, während du verletzt bist? Immerhin wirst du eine ziemlich lange Zeit nicht spielen können und so furchtbar das auch klingt, aber niemand weiß, ob du überhaupt wieder auf diesem Level spielen können wirst." Ich nickte betroffen. "Ja, ich hab ein paar Telefonate geführt und sie werden mich bis zum Ende der Saison ganz normal bezahlen. Danach sehen wir weiter, aber ich hoffe, dass ich am Ende der Rückrunde schon wieder auf dem Platz stehen werde." Sanft lächelte Karin mich an. "Ich drück dir auf jeden Fall die Daumen." Bittend sah ich meine Mutter an. "Würdest du mir einen Gefallen tun?" "Natürlich." "Kannst du ein Foto von mir machen? Ich möchte es auf Instagram hochladen, um mich bei den Fans zurückzumelden." "Bist du dir sicher? Bisher wolltest du es doch wegen der Verletzungen noch nicht", murmelte Karin besorgt, aber ich nickte. "Julian und ich haben eine ganze Weile telefoniert und er hat mich davon überzeugt, dass die Verletzungen mich nicht zu hässlich machen, um mich zu zeigen. Und jetzt bin ich frisch geduscht und Haare gewaschen und sehe ziemlich lebendig aus, oder?" Karin nickte lachend und ich reichte ihr mein Handy, dann richtete ich mich noch ein wenig weiter auf und hob meinen gesunden Arm, um einen Daumen hoch zu zeigen. Es klickte, dann gab Karin mir mein Handy zurück und ich betrachtete das Foto. Wenn man wusste, wie ich noch vor neun Tagen ausgesehen hatte, sah ich wirklich fit aus, aber so hatten mich nur meine Familie und Freunde gesehen. All die Fremden, die dieses Foto anschauen würden, würden den ausgemergelten Körper, den eingegipsten Arm, die großen Pflaster im Gesicht und die Halskrause sehen. Aber ich wollte jetzt keinen Rückzieher machen, also begann ich die Bildunterschrift zu tippen. "Vielen Dank für all die gedrückten Daumen und die Genesungswünsche🙏🏻❤️🖤 Ich gebe mein Bestes, um so schnell wie möglich wieder auf die Beine und den Fußballplatz zu kommen😌😅 #whatdoesn'tkillyoumakesyoustronger" Zufrieden mit dem Text postete ich das Bild schließlich und schon nach wenigen Sekunden kamen die ersten Kommentare. Ich las Erleichterung, Freude, Mitgefühl und Bewunderung, dann sperrte ich mein Handy wieder und sah Karin an. "Vielen Dank." "Keine Ursache. Ich muss jetzt leider los, weil ich versprochen habe, heute auf Lennard aufzupassen, aber ich komme so bald wie möglich wieder zu Besuch." Ich nickte lächelnd und verabschiedete mich von meiner Mutter, dann war ich schneller als erwartet wieder alleine und hing meinen Gedanken nach. Ich hatte Karin nichts von den Albträumen erzählt. Den Träumen, die meinen Puls so sehr in die Höhe steigen ließen, dass eine Krankenschwester oder ein Arzt ins Zimmer kam, um mich zu wecken und zu sehen, ob ich kollabierte. Anfangs hatte ich die angebotenen Schlaftabletten noch angenommen, aber ich hatte viel zu viel Schiss, von irgendwas abhängig zu werden und deshalb schnell wieder damit aufgehört. Seufzend griff ich nach meinem Handy und überlegte, wie ich mich von den immer dunkler werdenden Gedanken ablenken könnte, als Instagram mir eine Mitteilung schickte. Schnell klickte ich darauf und begann im nächsten Moment unwillkürlich zu lächeln. Julian hatte mein Bild gelikt und kommentiert und mir mit sechs Worten den Tag gerettet. "Ich bin so stolz auf dich❤️"

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt