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Eine Viertelstunde später bei Julian:
"Wo ist sie?", fragte ich außer Atem, sobald ich Kommissarin Breme entdeckt hatte, die auf einem Stuhl im Krankenhauseingang saß. Sie stand auf und nickte in Richtung des Ganges hinter sich. "Sie wird schon operiert. Es- es sieht nicht allzu gut aus." Mir knickten fast die Beine weg bei diesen Worten. "Was heißt das? Was hat sie?" "Viele Verletzungen. Ich will Ihnen wirklich keine Angst machen, aber ich hab sie erst auf den dritten Blick erkannt. Ihr Gesicht war voller Prellungen und Glassplitter, ein Auge war stark angeschwollen. Außerdem hat sie mehrere Stichwunden, die Jan Reinert ihr gerade zugefügt hat, als wir sein Haus erreicht haben." Die Worte der Polizistin kamen nur langsam bei mir an. "Wo ist er jetzt?" "Jan Reinert? Er ist tot. Mein Partner hat ihn erschossen, weil er auf mich geschossen hat." Ich nickte schwach. "Das ist gut. Das ist gut, das kann ich den anderen sagen", murmelte ich vor mich hin und begegnete Bremes verwirrtem Blick. "Sind Sie allein hier?" Ich nickte. "Die anderen haben noch geschlafen, als der Anruf kam, dass sie zu Jan fahren und ich wollte sie nicht wecken und ihnen Hoffnung machen, die sich dann vielleicht als falscher Alarm entpuppt hätte. Und als der zweite Anruf kam, war ich gerade draußen spazieren, um den Kopf freizukriegen. Und Ihr Kollege konnte mir noch nicht wirklich viel sagen, außer das Krankenhaus, in das sie gebracht wurde." "Dann sollten Sie Ihre Freunde jetzt anrufen. Sie werden wissen wollen, wie der Stand ist." Ich nickte, dann zog ich mein Handy hervor und wählte Kais Nummer. Er ging fast sofort ran. "Hey Jule, wo steckst du denn? Du bist vor gefühlten Ewigkeiten losgegangen." "Ich bin im Krankenhaus." "Was? Was ist passiert?" "Sie haben Emily gefunden und ins Krankenhaus gebracht." "Oh mein Gott, wir kommen sofort hin! Wie geht es ihr?" Ich seufzte. "Nicht gut. Sie wird operiert, aber die Verletzungen sind sehr schwer." "Verstehe. Schreib mir den Namen vom Krankenhaus, dann machen wir uns auf den Weg. Bis gleich." "Bis gleich." Ich legte auf und schickte Kai die Adresse, dann steckte ich mein Handy wieder weg und ließ mich auf einen der Stühle neben Kommissarin Breme fallen. "Die anderen kommen bald", informierte ich sie und bekam ein Nicken als Antwort. "Sie können übrigens auch direkt vor dem OP warten, da gibt es einen Bereich für wartende Angehörige." Ich schluckte. "Ich weiß nicht, ob ich ein Angehöriger bin." Interessiert sah die Polizistin mich an. "Wieso sollten Sie keiner sein?" "Weil Emily und ich uns eigentlich darauf geeinigt hatten, erstmal keinen Kontakt zu haben, weil die Trennung für uns beide sehr schmerzhaft war. Aber dann haben unsere Freunde alles getan, damit wir uns ständig wiedersehen und irgendwie hab ich dadurch begriffen, dass ich nicht ohne sie kann. Aber sie ist noch nicht bereit, es nochmal mit mir zu probieren." "Vielleicht denkt sie anders, wenn sie aufwacht. Immerhin wäre sie fast gestorben." Ich nickte nachdenklich. "Ja, vielleicht. Jetzt zählt erstmal, dass sie wieder gesund wird." Die Polizistin wollte antworten, wurde jedoch abgewürgt, weil sich in diesem Moment ihr Kollege zu uns gesellte. "Leyla? Wir müssen zurück zur Wache." Auf den Lippen von Kommissarin Breme bildete sich ein Lächeln und sie stand auf. "Alles Gute, Herr Brandt. Ich drücke Ihnen und Frau Bender die Daumen." "Danke." Auch Kommissar Sydlik nickte mir nochmal zu, dann entfernten sich die beiden und ich hörte, wie Kommissarin Breme sagte: "Du hast mich gerade zum ersten Mal seit wir uns kennen beim Vornamen genannt." "Gewöhn dich besser nicht dran", entgegnete ihr Kollege, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er bei diesen Worten schmunzelte. Sobald ich die beiden nicht mehr hören und sehen konnte, seufzte ich. Was machte ich eigentlich hier? Emily und ich waren nicht mehr zusammen, bei unserem letzten Aufeinandertreffen war es total seltsam gewesen und doch war ich sofort hergefahren, als ich von ihrer Entführung gehört hatte und jetzt saß ich hier und konnte mir nicht vorstellen, dass das Leben weitergehen würde, falls Emily starb. Ein weiteres Seufzen entfloh meinen Lippen und ich legte erschöpft den Kopf in meine Hände, bis ich vertraute Stimmen hörte. Sofort sah ich auf und entdeckte Kai, Sophia, Sven, Laura, Lennard, Lars, Nele, Bernd und Emilys leibliche Mutter mit ihrem Mann. Ich stand auf und umarmte sie alle kurz. "Was weißt du über ihren Zustand?", erkundigte sich Sven anschließend und ich zuckte die Schultern. "Nicht viel. Die Polizistin hat von schweren Verletzungen gesprochen und-", ich stockte. "Und was? Was hat sie noch gesagt Julian?", bohrte Lars nach und ich schluckte. "Sie hat gesagt, dass es nicht gut aussieht. Emily hatte wohl auch viele Verletzungen im Gesicht und war kaum zu erkennen." "Oh mein Gott", entfuhr es Emilys Mutter und sie schlug sich schockiert die Hand vor den Mund. Auch die anderen waren sehr betroffen und ich wollte gerade irgendetwas aufmunterndes sagen, als ich hinter mir eine Tür leise quietschen hörte. Sofort drehte ich mich um und entdeckte einen Arzt in grüner OP-Kleidung. "Sind Sie die Angehörigen von Emily Bender?" "Ja. Wie geht es ihr?", erwiderte Sven sofort. "Sie wird noch operiert und ich kann Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, ob sie es schaffen wird. Sie war stark dehydriert, hat seit mehreren Tagen keine Nahrung und keinen Schlaf bekommen, außerdem war ihr Körper die ganze Zeit im Stresszustand. Sie hat einige Frakturen, die mehrere Tage alt zu sein scheinen und einige Quetschungen, die vermutlich auf den Anschnallgurt zurückzuführen sind. Die Polizei meinte, dass sie vor ein paar Tagen in einem verunglückten Wagen gesessen hat. Was den Chirurgen am meisten Sorgen macht, sind allerdings die inneren Verletzungen durch diverse Schläge, Tritte und Messerstiche. Es sind mehrere Organe verletzt." Ich schluckte hart, denn das klang schlimm, sehr schlimm. Der Arzt räusperte sich, um unser aller Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. "Eventuell wird sie eine Organtransplantation brauchen, von Leber und/ oder Magen. Die Chirurgen tun ihr bestes, um das zu verhindern, aber sollte wirklich eine Lebertransplantation von Nöten sein, könnte eine Lebendspende uns wertvolle Zeit verschaffen. Wenn also jemand von Ihnen bereit wäre, einen Teil seiner Leber zu spenden, dann wenden Sie sich bitte an eine der Schwestern, damit Sie getestet werden können. Und ich werde so bald wie möglich wiederkommen, um Sie auf den neusten Stand zu bringen." Mit diesen Worten verschwand er wieder und wir blieben zurück, geschockt von dem, was wir gerade gehört hatten. Was hatte dieses Schwein ihr nur alles angetan?


Zur selben Zeit bei Emily:
Verwirrt sah ich mich um. Wieso war ich hier, in meinem alten Kinderzimmer? Mein Blick schweifte über die selbstgemalten Bilder an der Pinnwand und den gebastelten Hasen aus dem Kindergarten, auf den ich lange unheimlich stolz gewesen war. Ich fragte mich, ob- Schmunzelnd ging ich in die Hocke und hob den Teppich an. Tatsächlich! Da war immer noch der riesige Fleck, den ich mit einer Mischung aus Nagellackentferner meiner Mutter und flüssigem Glitzer-Kleber auf den Boden gemacht hatte. Weil sie die Stelle nicht mehr sauber bekommen hatte, hatte Mama mir einfach einen Teppich darübergelegt und den Nagellackentferner danach ganz oben in ihren Schrank geräumt. Ich musste unwillkürlich lächeln, dann ertönten hinter mir plötzlich Schritte und ich drehte mich sofort um. Tränen traten in meine Augen und ich stand auf, um den Mann zu umarmen, den ich so vergöttert hatte, der mir Fahrradfahren beigebracht und mich zu meinem ersten Besuch in einem Fußballstadion geschleppt hatte. "Papa", hauchte ich ungläubig und er öffnete grinsend seine Arme. "Komm her, meine Kleine." Schluchzend rannte ich zu ihm und schmiss mich in seine Arme und als ich begriff, dass er wirklich real war und ich ihn berühren konnte, wurde mein Weinen noch bitterlicher und ich drückte mein Gesicht so fest wie möglich gegen seine Brust, um den vertrauten Duft seines Aftershaves einzuatmen. Erst nach einer Ewigkeit löste ich mich von ihm und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. "Du bist so groß geworden", murmelte er und strich mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht, was mich zum Lächeln brachte. "Du hast dich dafür kein bisschen verändert, Papa. Aber was machst du hier? Und wieso bin ich überhaupt hier?" Besorgt sah mein Vater mich an. "Kannst du dich nicht erinnern?" Angestrengt kniff ich die Augen zusammen, nur um sie im nächsten Moment geschockt aufzureißen. "Jan! Ich wollte fliehen und dann ging die Haustür auf und er kam rein. Ich hab so laut geschrien, wie ich konnte, dann hat er mich gepackt und meinen Kopf gegen die Wand geschleudert. Ich hab versucht mich zu wehren, aber er hat mich ins Wohnzimmer gezerrt und zu Boden geschmissen. Und dann hatte er plötzlich ein Messer in der Hand und-", ich stockte und erneut sammelten sich Tränen in meinen Augen, "Es hat so weh getan. Ich hab geschrien und geschrien und dann wurde auf einmal alles schwarz." Mein Vater nickte und sah mich sanft an, während mich eine schreckliche Vorahnung erfasste. "Wir sind hier, du bist hier. Heißt das, ich bin- Papa, bin ich tot?"

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt