35.2 (Epilog)

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Irgendwann kam Lars zu mir und sah mich fragend an. "Bereit für die Rede?" Ein wenig nervös nickte ich und stand auf, um zu dem Mikrophon zu gehen, das mittlerweile aufgestellt worden war. Vernehmlich räusperte ich mich und der Verstärker sorgte dafür, dass es jeder hörte. Die Leute, die nicht mehr auf ihren Plätzen saßen, suchten sich schnell einen Platz und ich spürte, wie meine Anspannung doch noch etwas größer wurde, als alle mich ansahen. "Liebes Brautpaar, liebe Gäste, ich möchte Sie alle nicht lange vom Feiern abhalten, aber ich würde gerne einige Worte an Braut und Bräutigam richten. Liebe Laura, lieber Sven, ich liebe euch und es macht mich unheimlich glücklich, dass wir heute eure Hochzeit feiern. Ich muss zugeben, dass ich am Anfang nicht wirklich begeistert davon war, dass mein Bruder mit meiner besten Freundin zusammen ist, aber ihr habt mich innerhalb kürzester Zeit davon überzeugt, das ihr großartig zusammenpasst. Laura, du bist einer der herzlichsten Menschen, die ich kenne. Als ich neu in die Mannschaft kam, hast du mich sofort mit offenen Armen empfangen und wurdest innerhalb kürzester Zeit ein so wichtiger Teil meines Lebens, dass ich mir dich gar nicht mehr wegdenken konnte. Sven, du bist ein wundervoller großer Bruder, egal wie sehr ich dich auch mal auf die Palme bringe und das, obwohl wir uns erst seit wenigen Jahren kennen. Du und Lars, ihr habt mir angeboten zu euch zu ziehen, habt mir Leverkusen gezeigt, habt mit mir die Bender-Stiftung gegründet und ward immer für mich da, egal was anstand. Dich heute heiraten zu sehen, erfüllt mich mit purer Freude und Stolz und bevor ich hier in Tränen ausbreche, möchte ich euch einfach eine gigantisch große Menge an Glück, Liebe, Vertrauen und Freude für euer gemeinsames Leben wünschen. Auf das Brautpaar!", rief ich feierlich und hob mein Glas, das ich von meinem Platz mitgenommen hatten, damit wir alle gemeinsam auf Laura und Sven anstoßen konnten. Dann zwinkerte ich Lars zu, der im nächsten Moment aufstand und zu mir kam. Er trug eine Perücke, die ihm eine dunkelrote Mähne verschaffte und reichte mir dasselbe Modell in schwarz. In der Hand hielt er bereits ein Mikrophon und ich zählte leise bis drei, bevor wir mit unserem Disney-Medley begannen, für das wir uns wie Scar und Simba von König der Löwen "verkleidet" hatten. Laura riss überrascht die Augen auf, bevor sie vor Rührung zu weinen begann, denn sie liebte Disneyfilme und spätestens jetzt war ich mir sicher, dass dieses Medley die perfekte Idee gewesen war. Wir endeten mit "Can you feel the love tonight?" und nicht nur meine beste Freundin hatte Tränen in den Augen. Als Lars und ich schließlich verstummten, bekamen wir tosenden Applaus und Standing Ovations und verbeugten uns. Erschöpft und völlig außer Atem riss ich mir die Perücke vom Kopf und blinzelte einige Male, weil mir extrem schwindelig war und ich befürchtete, gleich umzukippen. Unter größter Anstrengung torkelte ich zum Tisch zurück und stolperte in Julians Arme. "Hey, langsam Muffin", murmelte er sanft und ich sah ihn erschöpft an. Vorsichtig legte mein Freund seine Hand auf meine Stirn und sah mich besorgt an. "Du glühst total und kannst keinen Schritt mehr machen. Los, lass uns mal aus dem Getümmel hier rauskommen."

Julians stützte mich an den vielen Menschen vorbei, die zum Großteil immer noch standen, und setzte mich in einem Nebenraum auf einem Stuhl ab. Vorsichtig kniete er sich vor mich und strich mir über die Wange, während ich erschöpft die Augen schloss und versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen. "Das war ein bisschen viel, was?" Obwohl ich es eigentlich nicht zugeben wollte, nickte ich, was meinem Freund ein Seufzen entlockte. "Ich liebe dich Muffin, aber manchmal bist du so stur in deinem Bloß-keine-Schwäche-zeigen, dass es mich rasend macht. Ich hab Angst, dass du zu sehr über die Stränge schlägst und deine Fortschritte gefährdest. Bitte tu mir den Gefallen und setz dich in den Rollstuhl." Erst jetzt bemerkte ich, dass der genannte Teufelsgegenstand neben der Tür beinahe auf mich zu lauern schien und sah Julian wütend an. "Du wusstest, dass er hier drin steht, oder? Es war dein Plan, mich hier rein zu bringen und in dieses Ding zu verfrachten!" Traurig sah Julian mich an und nickte. Er senkte den Blick und ich glaubte bereits, er würde sich bei mir entschuldigen, dann hob er den Kopf wieder und ich entdeckte Tränen in seinen Augen. "Emily, du warst so gut wie tot. Ich hab tagelang an deinem Bett gesessen und gehofft und gebetet, dass du überlebst, hab miterlebt, wie du notoperiert werden musstest, schließlich aufgewacht bist und dich dann durch die Physiotherapie und Reha gequält hast, die immer noch nicht vorbei ist. Du bist mein Leben, ohne dich hat nichts mehr einen Sinn. Aber wenn du es nicht langsam hinkriegst, auf die Signale deines Körpers zu hören und ein paar Gänge runterzuschalten, werde ich dich verlieren. Und zwar nicht so, wie ich durch unsere Trennung verloren habe, sondern endgültig. Und ich könnte mir niemals verzeihen, wenn du zusammenbrechen und sterben würdest und ich in dem Wissen weiterleben müsste, dass ich es hätte verhindern können, wenn ich strenger mit dir gewesen wäre. Ich liebe dich, Emily Bender. Also bitte tu mir den Gefallen und setz dich in den verdammten Rollstuhl, damit ich mit dir tanzen kann ohne Angst zu haben, dass du in meinen Armen zusammenbrichst." Tränen liefen über Julians Wangen und mir ging es nicht anders, während ich sanft nach seiner Hand griff und schwach nickend kapitulierte. "Okay." "Danke", flüsterte er und lehnte sich vor, um seine Lippen auf meine zu legen. Der Kuss schmeckte salzig und gleichermaßen nach Verzweiflung wie nach Leidenschaft. Als ich mich von ihm löste und in Julians vertraute, liebevolle Augen sah, musste ich lächeln. "Womit hab ich dich bloß verdient, Julian Brandt?" "Die Frage kann ich nur zurückgeben", entgegnete er schmunzelnd, dann holte er den Rollstuhl und half mir hinein. Er wollte mich gerade aus dem Raum schieben, als ich ihn aufhielt. "Warte, lass uns noch nicht gehen. Ich möchte zuerst noch was machen." Überrascht sah Julian mich an und kniete sich vor mich. "Klar, alles, was du willst." "Lass uns ein Video machen. Ein Video, das wir uns erst am Abend unserer eigenen Hochzeit anschauen werden." "Unserer eigenen Hochzeit?", wiederholte Julian ungläubig und ich nickte. "Irgendwann werde ich dich heiraten Julian Brandt und jetzt hock dich neben mich und hol dein Handy raus." Schmunzelnd kam der Blonde meiner Aufforderung nach und startete ein Video. "Hallo Zukunfts-Emily und Zukunfts-Julian", begann ich lächelnd und spürte, wie Julian mit seiner freien Hand nach meiner griff, um unsere Finger miteinander zu verschränken, "Wenn ihr dieses Video seht, habt ihr euch dazu entschieden, euer ganzes restliches Leben miteinander zu verbringen und seid wahrscheinlich gerade die glücklichsten Menschen der Welt. Ich wünsche euch, dass ihr gemeinsam alles übersteht, was das Leben euch vielleicht in den Weg stellen wird. Egal wie schwer es wird, haltet aneinander fest, glaubt daran, dass eure Liebe alles Schlechte überwinden kann. Emily, du kannst von Zeit zu Zeit eine sture Idiotin sein, die lieber die Zähne zusammenbeißt, als Schwäche zu zeigen. Außerdem hängst du häufig zu sehr an der Vergangenheit und an all diesen Dingen solltest du dringend arbeiten, falls du das nicht schon getan hast. Steh zu dir selbst, egal welche Narben du hast. Sie zeigen, was du alles erlebt und welche Schlachten du gewonnen hast. Und auch, wenn du Julian vielleicht manchmal den Hals umdrehen möchtest, dann erinnere dich daran, wieso du dich in ihn verliebt hast. Es waren nicht bloß die wunderschönen Augen und das hinreißende Lächeln, es waren vor allem seine bedingungslose Liebe und Aufopferung für die Menschen und Dinge, die ihm wichtig sind. Und du bist einer dieser Menschen. Vergiss das nicht und falls es dir doch mal nicht einfallen sollte, dann denk an die Pizza auf der Parkbank." Verwirkt sah Julian mich an. „Pizza auf der Parkbank?" Ich winkte ab. „Das hat was mit dem Koma zu tun, erkläre ich dir irgendwann mal. Na los, jetzt musst du was zu deinem Zukunfts-Ich sagen." "Ähm, okay. Hallo Julian. Ich denke, du bist gerade der glücklichste Mann der Welt und ganz ehrlich, keiner kann es dir verdenken bei dieser Hammer-Frau, der du gerade einen Ring an den Finger gesteckt hast. Sie hat dich in den letzten Wochen, Monaten und Jahren bestimmt regelmäßig an den Rand der Verzweiflung gebracht, aber du liebst sie mit all den Ecken und Kanten, die sie hat, weil du das alles vergisst, wenn sie dir ihr bezauberndes Lächeln schenkt. Dieses Watt-Lächeln, mit dem man einen ganzen Weihnachtsmarkt beleuchten könnte und das dich jedes Mal schwach macht, egal wie sauer du vielleicht auf sie bist. Emily hat es verdient, dass du sie jeden Tag eures gemeinsamen Lebens auf Händen trägst, also tu das gefälligst auch. Sie ist das Beste, was dir in deinem Leben je passiert ist, das solltest du niemals vergessen." Gerührt von seinen Worten, beugte ich mich zu ihm, um ihn sanft zu küssen, dann blieben wir Stirn an Stirn sitzen und sahen uns tief in die Augen. "Ich liebe dich", flüsterte Julian und zauberte mir damit ein Lächeln ins Gesicht. "Ich liebe dich auch." Sein Handy gab ein leises Geräusch von sich, als er das Video beendete, dann steckte er es ein und stand auf. "Was hältst du von Tanzen?" "Im Rollstuhl?", entgegnete ich skeptisch und Julian nickte. "Logo."

Grinsend schob er mich aus dem Raum zurück zur Feier, wo ich feststellte, dass Laura und Sven gerade mit ihrem Hochzeitstanz begonnen hatten. Gerührt und glücklich sah ich Ihnen dabei zu, bis die letzten Töne von All of Me verklungen waren, dann begann Stay von Rihanna und Julian schob mich auf die Tanzfläche. Lächelnd drehte er den Rollstuhl im Kreis und tanzte um mich herum, wobei er fast nie meine Hand los ließ und mir wurde ein weiteres Mal an diesem Tag klar, dass er perfekt war und ich ihn mehr liebte, als mein eigenes Leben. Ich würde alles für Julian geben und ich wusste, dass er es für mich genauso tun würde. Während er mich erneut im Kreis drehte, ließ ich meine Gedanken schweifen. Alles hatte damit begonnen, dass ich meine leibliche Mutter gesucht und meine Brüder gefunden hatte. Dann waren wir zusammengezogen und ich hatte Bernd, Julian und all die anderen Jungs aus der Mannschaft kennengelernt. Mein Studium war mir über den Kopf gewachsen, gleichzeitig hatte ich wieder mit dem Fußballspielen begonnen und Laura kennengelernt, dann hatten Julian und ich ohne uns daran erinnern zu können miteinander geschlafen und schließlich hatten wir unser Baby Johanna verloren. Gemeinsam mit Julian hatte ich getrauert und dann waren wir zusammengekommen. Sven, Lars und ich hatten die Bender-Stiftung gegründet und ich hatte mein Leben wieder zu lieben gelernt, weil plötzlich so viele Menschen es lebenswert gemacht hatten. Doch dann war Julians und meine Beziehung in die Brüche gegangen, genauso wie unsere gemeinsame Wohnung durch die Gasexplosion und ich war wenige Monate später zu meiner kleinen Weltreise aufgebrochen. Danach hatte Julians Bruder Jannis plötzlich vor meiner Tür gestanden und Asyl gesucht, welches ich ihm gewährte, solange er mich regelmäßig zum Essen einlud. Schmunzelnd dachte ich daran, wie Kai und Sophia mich schließlich mit zu Julians Party genommen hatten, bei der unser Wiedersehen meine komplette Gefühlswelt durcheinandergebracht hatte. All dieses Chaos hatte sich aber gelegt, seit wir wieder zusammen waren. Lachend musterte ich Julian, der mich glücklich angrinste, während er vor mir irgendwelche Verrenkungen machte, die wohl Tanzen sein sollten. Ich liebte diesen Mann. Er war plötzlich und unerwartet in mein Leben getreten, aber er hatte es zum Besseren verändert. Und dafür würde ich Julian ewig dankbar sein, genauso wie Sven, Lars, Laura und auch Karin, die mir gezeigt hatten, dass eine Familie nicht immer die Menschen sein müssen, mit denen man aufgewachsen ist. Es sind diejenigen, die zufällig in dein Leben kommen und dann beschließen, für immer ein Teil davon sein zu wollen.



~ Ende ~

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt