Hustend und schniefend öffnete ich die Augen, doch es blieb dunkel. Mein eines Auge war von Jans Schlägen noch immer extrem zugeschwollen und durch das Fenster zu meiner Linken fiel kein bisschen Licht herein, woraus ich schloss, dass es Nacht sein musste. Ich konnte nicht genau sagen, ob ich geschlafen hatte oder bewusstlos gewesen war, auf jeden Fall fühlte ich mich grottenschlecht. Mir tat alles weh und ich hatte das Gefühl, langsam und qualvoll zu sterben. Ich sah nach unten, wo ich meinen nackten Bauch erblickte, auf dem Jan vor kurzem mehrere Zigaretten ausgedrückt hatte. Als er mir das Shirt mit seinem Messer aufgeschnitten hatte, hatte ich für einen kurzen Moment befürchtet, er würde mich vergewaltigen, aber das hatte er glücklicherweise nicht getan, obwohl ich ihm durchaus zutraute, dass ihm das auch noch einfallen würde. Müde wiegte ich meinen Kopf hin und her, der mir wie eine schwere Last auf meinem Hals vorkam, dann lauschte ich, ob irgendwo im Haus ein Geräusch zu hören war. Aber es war alles still. War Jan vielleicht tatsächlich außer Haus? Wenn ja, wäre jetzt meine Chance, um hier endlich rauszukommen. Entschlossen zerrte ich an meinen Fesseln, aber sie lösten sich kein Stück. In diesem Winkel würde ich meine Hände niemals aus dem Kabelbinder befreien können. Mir blieb nur eine Möglichkeit. Angestrengt presste ich meine Lippen aufeinander, dann ließ ich meine Hand mit Schwung gegen das Stuhlbein donnern. Der Schmerzensschrei, der sich in meiner Kehle bildete, blieb hinter meinen Lippen eingesperrt, als ich hörte und spürte, wie mein Handgelenk brach. Mit zusammengebissenen Zähnen zog ich meine gebrochene Hand aus dem Kabelbinder, sodass ich die andere ganz leicht herausnehmen konnte. Unter gewaltigen Schmerzen beugte ich mich vor, um meine gefesselten Füße sehen zu können. Anschließend schaute ich mich suchend im Keller um und entdeckte eine leere Glasflasche in der Ecke. So vorsichtig und leise wie möglich, was leider absolut nicht vorsichtig und leise war, ließ ich mich mit dem Stuhl auf die Seite fallen und robbte zu der Flasche. Als ich sie endlich erreicht hatte, schmetterte ich sie gegen die Wand, wobei mir ein paar Glassplitter ins Gesicht flogen, was aber jetzt mein kleinstes Problem war. Mit einer der größeren Scherben in der Hand schnitt ich die Kabelbinder an meinen Knöcheln los und erhob mich taumelnd auf die Füße. Augenblicklich wurde ich von einem so heftigen Schwindel erfasst, dass sich mir der Magen umdrehte und ich mich übergeben musste. Keuchend blieb ich in gebeugter Position stehen, bis ich mich so weit erholt hatte, dass ich mir zutraute, zu laufen. Vorsichtig machte ich einen Schritt nachdem anderen und stützte mich schwer atmend an der Wand ab. Der Weg zur Tür erschien mir ewig lang und sobald ich sie erreicht und geöffnet hatte, erblickte ich eine steile Treppe. Mittlerweile drang wieder etwas Licht durch das kleine Fenster im Keller, der Tag war definitiv angebrochen. Einen Moment lang zweifelte ich, dass ich die Treppe überwinden würde, aber die Tatsache, dass ich es so weit geschafft hatte, durchflutete meine Körper mit Adrenalin und ich kämpfte mich die Stufen nach oben, bis mir vor Anstrengung schwarz vor Augen wurde und ich mich kurz ausruhen musste. Aber ich durfte mir keine lange Pause erlauben, denn Jan konnte mich jeden Moment entdecken. Also kämpfte ich mich weiter bis zum Ende der Treppe. Erleichtert stellte ich fest, dass ich jetzt am Anfang eines Ganges stand, an dessen Ende die Haustür zu sein schien. Am Ende meiner Kräfte, aber fest entschlossen, jetzt nicht aufzugeben, lief ich weiter. Meine Hand hinterließ an der weißen Wand einen dreckigen und blutigen Abdruck, aber das bemerkte ich kaum. Schritt für Schritt kam ich der Haustür näher und dann wurde sie plötzlich geöffnet.
Eine Viertelstunde zuvor bei Kommissarin Breme:
"David, ich hab ihn!", rief ich meinem Kollegen zu, der sofort zu mir kam. "Wen hast du?" "Den Stalker von Emily Bender. Die Fingerabdrücke passen zu diesem Kerl hier, Jan Reinert. Er hat bis vor ein paar Jahren für Eintracht Frankfurt gespielt und war mit Emily Bender liiert. Wenige Monate nach der Trennung hat er sie gestalkt und angegriffen, woraufhin sie eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt hat und er ins Gefängnis kam. Er wurde vor ein paar Wochen wegen guter Führung vorzeitig entlassen." "Das muss er sein", stimmte David mir zu, "Wir fahren sofort zu seiner gemeldeten Adresse hier." Ich nickte und stand auf, schnappte mir meine Jacke und verließ gemeinsam mit meinem Partner das Revier. Auf der Fahrt zur Adresse, an der Jan Reinert gemeldet war, fuhr ich am oberen Tempolimit. Ich wusste, dass es nicht gut war, wenn man sich im Job von Gefühlen beeinflussen ließ, aber der Gedanke, dass dieser Kerl Emily Bender seit drei Tagen gefangen hielt und wahrscheinlich sonstwas mit ihr angestellt hatte, machte mich rasend. David kommentierte mein Fahrverhalten nicht, sondern rief Julian Brandt an, unsere Kontaktperson bei Emily Benders Familie, den wir seit gestern regelmäßig auf Stand hielten, ob es etwas Neues gab. "Herr Brandt? Hier ist David Sydlik. Ich wollte sie nur kurz informieren, dass wir auf dem Weg zu demjenigen sind, der Frau Bender all die Briefe und Geschenke geschickt hat. Sein Name ist Jan Reinert." Ich konnte nicht hören, was Julian Brandt ihm antwortete, aber es klang aufgebracht. "Das ist erstmal nur ein Besuch, wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss oder sonstiges. Wir haben immer noch keine Beweise dafür, dass der Stalker und der Entführer ein und dieselbe Person sind." "Ja, ich melde mich bei Ihnen, sobald ich genaueres weiß." "Auf Wiederhören." Er legte auf und seufzte. "Ich hasse es, den Familien zusehen zu müssen, wie sie völlig machtlos sind." "Bist du deshalb Polizist geworden?", erkundigte ich mich, während das Navi mir sagte, dass ich nur noch zwei Mal rechts abbiegen musste, um mein Ziel zu erreichen. "Ja, vielleicht", murmelte er nachdenklich, dann parkte ich den Wagen vor dem Zielobjekt und wir stiegen aus. Routiniert ließ ich meinen Blick einmal über die Umgebung schweifen, um die Lage zu sondieren, dann lief ich zum Haus und hob die Hand, um zu klingeln. Ein lauter Schrei aus dem Inneren ließ mich zusammenzucken und sofort drückte ich mehrfach fest auf die Klingel. "Hier ist die Polizei, öffnen Sie die Tür!", rief David laut, doch anstelle einer Antwort hörte ich einen weiteren Schrei und machte sofort einen Schritt zur Seite, damit David die Tür eintreten konnte. Mit gezückter Waffe betrat ich den Flur und lief dann in den Raum zu meiner Linken. "Legen Sie das Messer weg! Hände hoch!", rief ich, sobald ich den leblosen Frauenkörper auf dem Boden und den Mann mit dem Messer in der Hand sah, der auf sie einstach. Er zuckte zusammen und sah hoch, das Messer noch immer in der Hand. Vorsichtig stand er auf, ließ das Messer jedoch nicht los. "Ich sagte: Legen Sie das Messer weg", wiederholte ich meine Worte, während ich hörte, wie David ebenfalls den Raum betrat und sich neben mich stellte. Dieser kurze Moment meiner Unaufmerksamkeit reichte. Ich nahm lediglich eine blitzschnelle Bewegung war, dann hielt Jan Reinert plötzlich eine Waffe in der Hand und richtete sie auf mich. In letzter Sekunde duckte ich mich, während zwei Schüssel fast zeitgleich durch den Raum schnellten. Ich sah, wie Reinert zu Boden ging, die Hand auf die Brust gepresst, unter der sich rotes Blut auszubreiten begann, dann schaute ich nach rechts. David stand wie festgefroren da, die Waffe noch immer im Anschlag. Vorsichtig rappelte ich mich auf und sah ihn an. "Du hast mir das Leben gerettet. Danke." Er nickte kurz und abgehackt, dann zog er mich völlig unerwartet in eine kurze, feste Umarmung. Ich konnte kaum begreifen, was hier gerade geschah, da hatte er mich schon losgelassen und lief zu der leblosen Frau am Boden. "Keine Atmung, kein Puls. Ruf einen Krankenwagen!", wies er mich an und ich kam seinem Befehl nach. Abwechselnd reanimierten wir die junge Frau, die unter all den entstellenden Verletzungen wohl Emily Bender war, bis der Rettungswagen eintraf. Schaulustige und Journalisten tummelten sich vor dem Haus, um den besten Blick auf das Opfer zu erhaschen, was bei mir wie immer Ekel auslöste. Wer ergötzte sich bitteschön am Leid anderer? Fragend sah ich David an. "Kann ich im Krankenwagen mitfahren und du informierst die Familie?" Er nickte und zum ersten Mal in zwei gemeinsamen Jahren als Partner, sah ich ihn richtig lächeln. "Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist." Ich erwiderte sein Lächeln und nickte. "Ja, das bin ich auch." Dann stieg ich in den Krankenwagen und wir fuhren los. Ich hörte, dass im hinteren Teil des Wagens um Emily Benders Leben gekämpft wurde und als wir schließlich das Krankenhaus erreichten, schaffte ich es gerade noch zum nächsten Busch, bevor ich mich übergab. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich gesehen, wie jemand vor meinen Augen erstochen wurde und den Anblick der blutigen Klinge im Fleisch würde ich wohl niemals mehr vergessen können. Ob Emily Bender das überleben würde?
DU LIEST GERADE
Plötzlich zwei Leben?
FanfictionDritter Teil der "Plötzlich zwei...?"-Trilogie Vier Monate sind vergangen seit Emily und Julian sich getrennt haben. 16 Wochen, in denen beide auf ihre eigene Art versucht haben, mit der neuen Situation leben zu lernen. 112 Tage, die gereicht haben...