Zur selben Zeit bei Julian:
"Wir haben Emily in ein künstliches Koma verlegt, damit ihr Körper sich in Ruhe erholen kann. Die Lebertransplantation lief soweit gut, der Magen konnte vollständig erhalten werden und auch alle anderen verletzten Organe konnten repariert werden. Ihr Handgelenk ist kompliziert gebrochen, weshalb mehrere Nägel eingesetzt werden mussten, ansonsten sind Arme und Beine bis auf oberflächliche Verletzungen verschont geblieben. Außerdem ist ihre Nase gebrochen, aber auch das konnte gerichtet werden und muss jetzt heilen. Leider haben Kopf und Nacken einiges abbekommen und sie hat mehrere Schwellungen im Gehirn und an der Wirbelsäule. Das werden wir sehr genau beobachten, aber sollte sie all das überleben, kann immer noch niemand vorhersagen, ob sie irgendwelche langfristigen Schäden behalten wird." "Von welcher Art Schäden sprechen wir hier?", erkundigte Sven sich besorgt und der Arzt seufzte. "Das Gehirn wurde eine Weile nicht mit Sauerstoff versorgt, also könnten Bereiche im Gehirn abgestorben sein oder müssen wieder neu trainiert werden. Außerdem hat sie einen angebrochenen Halswirbel, der im schlimmsten Fall noch vollständig brechen und das Rückenmark verletzten könnte. Aber ich rate Ihnen, sich jetzt noch keine Gedanken zu machen, was danach kommen könnte. Erstmal muss sie die nächsten Stunden überleben, dann die nächsten Tage. Wenn Sie an einen Gott glauben, dann ist jetzt die richtige Zeit, um zu beten. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Emily braucht ein Wunder, um zu überleben." Mit diesen Worten ließ der Arzt uns stehen und ich sah in schockierte Gesichter, die meines vermutlich eins zu eins spiegelten. "Hab ich das gerade richtig verstanden? Sie ist jetzt zwar aus dem OP raus, aber sie wird es wahrscheinlich trotzdem nicht überleben?", hakte Sophia erstickt nach und Bernd nickte. "Ja. Aber jetzt zu verzweifeln bringt Emily auch nichts. Wir müssen einfach fest daran glauben, dass sie das schaffen kann." Fassungslos sah ich ihn an. "Wie kannst du so positiv bleiben? Der Arzt hat uns gerade im Grunde genommen gesagt, dass Emily sterben wird, wenn nicht ein Wunder geschieht. Hast du eine Idee, wo wir ein verdammtes Wunder herkriegen sollen?", fuhr ich ihn an und raufte mir verzweifelt die Haare. "Beruhig dich, Julian", fuhr Lars dazwischen und sah mich durchdringend an, "Wie wäre es, wenn du und Bernd als erstes zu Emily gehen? Eine Schwester kann euch bestimmt hinbringen und dann könnt ihr sie sehen, okay?" Ich nickte schwach, eine seltsame Niedergeschlagenheit durchfuhr meinen Körper. Die ganze Zeit hatte ich darauf gehofft, dass die OP zu Ende war, weil dann endlich alles gut wäre, aber stattdessen war es immer noch nicht gut. Würde dieser grauenhafte Albtraum jemals ein Ende nehmen? Leise seufzend folgte ich Bernd zu einer Krankenschwester, die uns zur Intensivstation brachte. Wir mussten Schutzkleidung anziehen und uns wurde Fieber gemessen, dann erst durften wir den Raum betreten, in dem Emily lag. Zwischen all den Geräten rund um das Bett herum und mit den vielen Schläuchen, an die sie angeschlossen war, sah sie so unglaublich zerbrechlich aus. Aber viel schlimmer waren die ganzen Verletzungen und Verbände. Ihr Arm steckte in einem Gips, auf dem anderen waren mehrere Pflaster, ein schneeweißer Verband schmückte ihren Kopf und ihr gesamtes Gesicht war mit Kratzern und blauen Flecken übersät. Eines ihrer Augen war so dick angeschwollen, dass sich mir beinahe der Magen umdrehte, als ich daran dachte, wie oft dieses Schwein wohl zugeschlagen hatte, bis sie so aussah. "Dürfen wir sie anfassen?", fragte ich die Krankenschwester beinahe flüsternd, obwohl es keinen Anlass gab, leise zu sprechen. Sie nickte leicht. "Ja, aber bitte nur ganz vorsichtig und auf keinen Fall im Gesicht. Da sind noch zu viele offene Verletzungen, in die keine Keime geraten dürfen." Ich nickte verständnisvoll und ließ mich neben dem Bett auf einen Stuhl sinken. Bernd tat es mir auf der anderen Seite gleich und sah mich fassungslos an. "Ich hab nicht erwartet, dass sie so schlimm aussieht", murmelte er und ich nickte. "Ich auch nicht. Obwohl die Polizistin mir gesagt hat, dass Sie Emily kaum erkennen konnte, hab ich mit sowas nicht gerechnet. Und das sind nur die Verletzungen, die wir erkennen können." "Siehst du ihren Hals? Ich hab schon oft in Filmen gesehen, wie jemand gewürgt wird, aber solche Male hab ich noch nie gesehen. Jan muss sie ständig gewürgt haben und das richtig fest." Der blonde Torhüter schloss die Augen und senkte den Kopf und ich war mir für einen kurzen Moment unsicher, ob er jetzt zu weinen beginnen würde. Aber schon nach wenigen Sekunden sah er mich wieder an. "Ich wünschte, ich hätte sie ein paar Minuten früher angerufen. Dann hätte ich ihr noch alles erklären können. Wenn sie jetzt stirbt, dann konnte ich ihr noch nicht sagen, wieso ich mich so mies verhalten und sie so verletzt habe." Mir entfuhr ein abfälliges Schnauben. "Da bist du nicht der einzige. Hat sie dir jemals erzählt, dass ich eine Vase nach ihr geschmissen habe, weil sie mir nicht zugehört hat? Ich hab ihr nicht nur psychisch weh getan, sondern auch physisch. Ja, sie hat Niklas geküsst und das hat mich verletzt, aber ich konnte es ihr eigentlich nicht verdenken, so wie ich mich vorher verhalten habe." Ich seufzte leise, dann griff ich zaghaft nach Emilys Hand und strich mit dem Zeigefinger sanft darüber. Mein Blick fiel auf ihr demoliertes Gesicht und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. "Bitte wach auf, Muffin. Ich muss dir doch unbedingt noch sagen, dass ich gelogen habe, als wir ausgemacht haben, dass alles wie vorher sein soll. Das will ich nämlich gar nicht. Ich will, dass alles neu wird, dass wir beide neu anfangen. Und sobald du aufgewacht bist, werde ich um dich kämpfen, versprochen."Zur selben Zeit bei Emily:
"Du wärst eine wundervolle Mutter gewesen", erklang eine Stimme hinter mir und ich drehte mich erleichtert um. "Mama! Du bist noch da, Gott sei Dank. Als ich aus dem Zimmer raus bin, hatte ich Angst, dass wir nicht mehr zusammen sein können." Ein liebevolles Lächeln bildete sich auf den Lippen meiner Mutter. "Wir sind immer zusammen, mein Schatz. Ich bin jederzeit bei dir, egal was du tust oder wo du bist." "Manchmal merke ich das", erwiderte ich nachdenklich, "Auf der Brücke, als ich dieses Mädchen davon abgehalten habe, sich in den Tod zu stürzen. Ronja hieß sie. Und einige Zeit später hat sie mich angerufen und mir dafür gedankt, dass ich ihr Leben gerettet habe. Ich weiß noch, dass ich dich auf der Brücke gesehen habe. Du hast mir gesagt, was ich ihr sagen sollte und es hat funktioniert. Also hast eigentlich du ihr das Leben gerettet." "Nein, das warst du. Du hast das gesagt, was dir bei meinem Anblick in den Sinn gekommen ist." Ich lächelte schwach und nickte. "Ja, vielleicht. Ach Mama, es ist so schön, wieder bei dir zu sein." "Ich finde es auch schön, Emily." Ich wollte etwas erwidern, aber plötzlich bekam ich so starke Kopfschmerzen, dass ich aufschrie. Meine Knie gaben nach und ich sackte auf den Boden, die Hände fest gegen meine Ohren gepresst, um das laute Dröhnen zu dämpfen, dass ich auf einmal hörte. "Was passiert hier?", schrie ich gegen den Lärm, aber meine Mutter antwortete mir nicht und dann wurde plötzlich alles schwarz.

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Plötzlich zwei Leben?
FanfictionDritter Teil der "Plötzlich zwei...?"-Trilogie Vier Monate sind vergangen seit Emily und Julian sich getrennt haben. 16 Wochen, in denen beide auf ihre eigene Art versucht haben, mit der neuen Situation leben zu lernen. 112 Tage, die gereicht haben...