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Mit einem schwachen Lächeln schüttelte mein Vater den Kopf. "Nein, du bist nicht tot. Aber du lebst auch nicht. Du bist in einer Art Zwischenwelt." "Und was passiert, wenn ich diese Welt verlasse?", fragte ich mit leicht zitternder Stimme. "Entweder du wachst auf oder du stirbst." Ich schluckte hart und sah meinen Vater hilfesuchend an. "Bist du hier, um mir zu sagen, dass es Zeit für mich ist, zu sterben?" "Nein. Ich bin hier, damit du nicht so einsam bist. Die Entscheidung, wohin du gehst, liegt allein bei dir." "Wenn ich mit dir gehe, könnte ich wieder bei dir und Mama sein. Wir wären wieder eine richtige Familie", murmelte ich und Papa nickte, bevor er mir seine Hand auf die Schulter legte und mich aufmunternd ansah. "Keine Sorge, meine Kleine. Du musst dich noch nicht sofort entscheiden."



Zur selben Zeit bei Julian:

Nervös wippte ich mit dem Fuß und erhob mich schließlich von dem Stuhl, auf dem ich saß, um hin- und herzutigern. Eine Weile lief ich einfach so von einer Seite des Ganges zur anderen, dann sah Lars mich genervt an. "Kannst du damit aufhören? Dein Rumgerenne macht mich kirre!" "Nein, ich kann nicht aufhören", entgegnete ich bissig, woraufhin Sven sich einmischte. "Jungs, beruhigt euch. Bei uns allen liegen die Nerven blank, aber sich jetzt gegenseitig zu zerfetzen bringt auch nichts. Julian, geh doch mal eine Runde an die frische Luft, vielleicht hilft das. Und auf dem Rückweg könntest du ein paar Kaffee mitbringen, das wäre super." Ich wollte eigentlich widersprechen, denn alles in mir sträubte sich dagegen, meinen Wachposten vor der Tür zum OP-Bereich zu verlassen. Ich könnte Neuigkeiten über Emily verpassen oder über Karin, die seit knapp einer Stunde ebenfalls operiert wurde, weil sie ihrer Tochter einen Teil ihrer Leber spenden würde. Aber der vernünftige Teil in mir wusste, dass wir das nächste Update frühestens in einer halben bis Dreiviertelstunde kriegen würden, also nickte ich und verließ den Wartebereich. "Ich muss auch mal hier raus", hörte ich eine Stimme hinter mir und nur wenige Sekunden später lief Laura neben mir. Sie schob Lennard im Kinderwagen vor sich her und gemeinsam verließen wir das Krankenhausgebäude. Das Wetter passte ziemlich gut zu meiner Stimmung, denn graue Wolken und ein kühler Wind versuchten einem glaubhaft zu machen, dass es bereits Spätherbst war, obwohl wir davon noch weit entfernt waren. Eine Weile liefen Laura und ich schweigend durch die kleine Grünanlage vor dem Krankenhaus, dann ließen wir uns auf einer Bank nieder. Seufzend sah die Brünette auf das schlafende Baby vor sich und ich sah sie fragend an. "Worüber denkst du nach?" Sie seufzte erneut. "Ich fühle mich schuldig. Seit Lennard auf der Welt ist, hatte ich immer weniger Zeit für Emily und wenn ich mal von mir aus angerufen habe, dann um sie zu fragen, ob sie als Babysitter einspringen kann. So verhält sich doch keine beste Freundin, oder?" Entschlossen sah ich sie an. "Du hast dir nichts vorzuwerfen. Ein Baby verändert das komplette Leben und Emily war sich dessen jederzeit bewusst. Sie hat immer gerne auf ihn aufgepasst und war ganz vernarrt in ihn. Und sie hat dir niemals für irgendwas die Schuld gegeben, im Gegenteil. Sie konnte jederzeit zu dir kommen, wenn ich wieder ein Arschloch war und wir uns gestritten hatten, sie konnte nach der Explosion zu dir, du warst immer für sie da. Wenn sich jemand vorwerfen sollte, dass er sie im Stich gelassen hat, dann bin ich das." Auf meine Worte folgte Schweigen und ich musste über das nachdenken, was ich gerade gesagt hatte. Es stimmte. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht da gewesen war, um sie zu beschützen. Ich spürte Lauras Blick auf mir und sah sie fragend an. Ein sanftes Lächeln erschien auf ihren Lippen. "Du liebst sie immer noch, oder?" Ich erwiderte stumm ihren Blick, während sich meine Gedanken überschlugen. Liebte ich Emily immer noch? Wir hatten uns gegenseitig so weh getan, alles Gute zwischen uns zerstört. Und doch fühlte sich alles falsch an, wenn sie nicht bei mir war. Ich dachte an das warme Gefühl, das sich in mir ausgebreitet hatte, als sie zu mir unter die Decke gekrochen war. Und an das schreckliche Gefühl, als ich von ihrer Entführung erfahren hatte. Die Angst um sie, die für einen Moment meinen ganzen Körper gelähmt hatte. Ich schloss die Augen und rief mir Emilys Gesicht in Erinnerung, ihre funkelnden Augen, die weichen Lippen zu einem sanften Lächeln verzogen. Unwillkürlich begann ich ebenfalls zu lächeln, dann öffnete ich die Augen und sah Laura an. "Wie könnte ich sie nicht lieben?"



Zur selben Zeit bei Emily:

"Wo ist Mama?", erkundigte ich mich bei meinem Vater, während ich durch ein altes Schulheft von mir blätterte und die krakeligen Zweitklässlerbuchstaben betrachtete. "Keine Sorge, du wirst sie noch treffen." "Weißt du, was ich mich gefragt habe, seit sie gestorben ist?" "Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen." Mit einem leisen Klatschen schlug das Heft in meiner Hand zu und ich drehte mich zu meinem Vater um. "Ich hab mich gefragt, wie sie dir verzeihen konnte, dass du sie betrogen hast und daraus ein Baby entstanden ist, das sie aufziehen sollte." Schweigen erfüllte den Raum, schuldbewusst sah Papa mich an. "Es hat eine Weile gedauert bis sie mir verzeihen konnte, doch sie war von der ersten Sekunde an in dich vernarrt und hat dich geliebt. Aber das ist nicht das, was du hören wolltest, oder? Du wolltest hören, dass sie mir eine schallende Ohrfeige gegeben hat und unglaublich wütend war. Denn so hättest du reagiert und ich hätte wohl auch so reagiert, aber deine Mutter war in dieser Hinsicht anders." "Sie fehlt mir", murmelte ich und mein Vater nickte. "Ich weiß." Wieder verfielen wir in Schweigen und ich ließ mich auf meinen Prinzessinnenschreibtischstuhl fallen. Mein Blick fiel auf ein Foto von mir und meinen Eltern in einem selbstbemalten Bilderrahmen. "Das ist ein wirklich schönes Bild, nicht wahr?", erklang plötzlich eine neue Stimme hinter mir und ich drehte mich mit großen Augen um. "Mama!" Sofort stand ich auf und umarmte sie, wobei ihr vertrauter Geruch mir sofort ein Gefühl von Geborgenheit bescherte. "Ich bin so froh, dass du da bist", murmelte ich in ihre Haare und sie seufzte leise. "Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen, Mäuschen. Aber dass du hier bist, bedeutet, dass du schwer verletzt bist." Ich schluckte und nickte. "Es war Jan." "Ich hab ihn nie gemocht", entgegnete Mama sofort und entlockte mir damit ein gequältes Lachen. "Ich weiß, Mama. Tut mir Leid, dass ich blind vor Liebe war." "Julian hat mir dagegen sehr gut gefallen", sagte sie zwinkernd und ich zuckte zusammen, bevor ich seufzte. "Aber das ist auch vorbei. Ich war so bescheuert, Niklas zu küssen. Ich hab mal wieder alles kaputt gemacht und dieses ganze Lass uns Freunde sein funktioniert auch nicht." Sanft sah meine Mutter mich an und strich mir über die Wange. "Weißt du, wieso das mit dem Freunde sein bei euch nicht funktioniert? Weil du tief in deinem Inneren längst weißt, dass du mehr als nur mit ihm befreundet sein willst. Ihr seid perfekt füreinander, mein Schatz." Zweifelnd sah ich sie an. "Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich erstmal wieder lernen, allein zu sein." "Das ist ein sehr vernünftiger Gedanke, aber du musst nicht lernen, allein zu sein. Du weißt bereits, wie es ist. Die letzten Monate seit Julians und deiner Trennung, die große Reise im Sommer. Da warst du allein." Ich nickte zustimmend. "Ja, schon, aber-" Lächelnd strich meine Mutter mir über die Wange. "Aber du hast gemerkt, dass man wirkliches Glück nur dann erfährt, wenn man jemanden hat, mit dem man es teilen kann, nicht wahr?" Wieder nickte ich und jetzt musste ich auch lächeln. "Das hab ich vermisst. Dass du mir zuhörst und mir Ratschläge gibst. Ohne dich fehlt einfach etwas wichtiges in meinem Leben, Mama." "Ich weiß. Und du fehlst mir auch, mein Schatz." Ich wollte etwas erwidern, als mich ein unbekanntes Geräusch aufschrecken ließ. Suchend sah ich mich um. "Was war das? Und wo kam es her?" Fragend wollte ich meine Mutter ansehen, aber die war plötzlich verschwunden und ich war allein im Raum. Stattdessen erklang erneut dieses Geräusch und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war das Schreien eines Babys! Wieder sah ich mich suchend um und kam zu dem Entschluss, dass das Geräusch von hinter der Zimmertür kommen musste. Für einen kurzen Moment rang ich mit mir, denn vielleicht würde ich nicht mehr in dieses Zimmer zurückkehren können, wenn ich erstmal draußen war. Und das Zimmer war doch der Ort, an dem ich meine Eltern sehen konnte! Aber dann hörte ich erneut das Baby schreien, also lief ich entschlossen zur Zimmertür und trat hindurch. Sie fiel hinter mir ins Schloss und war im selben Moment komplett verschwunden. Überrascht sah ich mich um, denn ich stand mitten im Wald. Unter meinen nackten Füßen raschelten vertrocknete Blätter und ich brauchte einen Moment, bis ich den Ort erkannte. Es war eine Weile her, dass ich hier gewesen war, denn ohne Julian fühlte es sich irgendwie falsch an, herzukommen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und dann stand ich auch schon vor dem kleinen Holzkreuz, das von einer Kette vertrockneter Gänseblümchen geschmückt wurde. Eine Träne lief meine Wange hinunter, während ich in die Hocke ging und mit der Hand sanft über das Holz strich. Meine Stimme war kaum mehr als ein leises Wispern im Wind, als ich meine Tochter begrüßte. "Hallo Johanna."

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt