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Die nächsten Tage zogen sich in die Länge wie Kaugummi und ich sehnte mich häufig schon mittags nach dem Abend, denn mir fehlte irgendetwas und ich wusste nicht, was es war. Meine Tage waren leer, ich hatte niemanden, mit dem ich mich treffen konnte. Na ja, eigentlich hatte ich schon ein paar Menschen, die für mich da gewesen wären, aber ich wollte niemandem zur Last fallen. Am allermeisten fehlte mir jemand zum Reden und Schweigen, einfach zum Dasein. Denn Laura war mit den Hochzeitsvorbereitungen, Lennard und der Arbeit vollkommen ausgelastet, Lars und Sven mussten sich momentan voll und ganz auf den Fußball konzentrieren, weil ihr Saisonstart bis jetzt nicht so verlief, wie sie es sich erhofft hatten und Sophia wollte ich auch nicht ständig belästigen. Seufzend sah ich auf meinen Handybildschirm, auf dem mir ein Selfie mit Bernd entgegenstrahlte. Ob ich es einfach nochmal versuchen sollte? Ich wollt so gerne wissen, wie es ihm in den letzten Monat n ergangen war und was in seinem Leben vor sich ging. Mein Blick glitt aus dem Fenster und ich beobachtete für einige Zeit einfach nur die dünnen Bindfäden, die es bereits seit Stunden vom Himmel regnete. Irgendwann atmete ich tief durch und tippte die Nummer meines ehemaligen besten Freundes ein. Es tutete mehrfach und ich befürchtete, dass ich wie bei allen bisherigen Versuchen in den letzten Monaten auf der Mailbox landen würde, aber dann wurde plötzlich abgehoben. "Leno?" Unsicher räusperte ich mich. "Hi, hier ist Emily." "Ich weiß. Was willst du?" "Wissen, wie es dir geht." "Tatsächlich?" "Ja, natürlich! Du bist mir immer noch unheimlich wichtig, Bernd." "Das sind ja ganz neue Töne", murmelte er abschätzig und ich wurde langsam aber sicher wütend. "Es wären keine neuen Töne, wenn du in den letzten Monaten mal an dein Handy gegangen wärst oder mir in England nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen hättest." Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. "Mir gehts gut. England ist immer noch toll, im Verein läufts auch gut." "Das freut mich", erwiderte ich ehrlich. Am anderen Ende der Leitung erklang ein Seufzen. "Es hat gerade an der Tür geklingelt, ich muss auflegen." Ich versuchte meine Enttäuschung runterzuschlucken. "Klar. Ich hoffe, wir hören mal wieder voneinander." "Mhm. Mach's gut, Emily." Bevor ich ihm antworten konnte, hatte er aufgelegt und ich saß wie ein begossener Pudel auf dem Sofa und starrte ins Leere. Hatte ich unsere Freundschaft wirklich so sehr ruiniert?

Als ich wenige Tage später die Kabine betrat, um mich fürs Training umzuziehen, folgten mir die Blicke sämtlicher Mitspielerinnen von der Tür bis zu meinem Platz. Ich wollte gerade fragen, was an mir so interessant war, als mein Blick auf meinen Platz fiel, wo mich ein gigantischer Strauß mit meinen Lieblingsblumen erwartete. Ich zuckte überrascht zusammen, denn eigentlich war ich davon ausgegangen, dass mein heimlicher Verehrer aufgegeben hatte, nachdem er mir einige Tage lang nichts geschickt hatte. Lara, die ihren Platz neben meinem hatte, grinste mich an. "Na, von wem sind denn die schönen Blumen?" Krampfhaft suchte ich nach einer Ausrede, aber sie beantwortete sich die Frage selbst. "Bestimmt von einem Kerl, der total in dich verschossen ist." Ich nickte bloß und griff nach dem Strauß, um nachzusehen, ob eine Karte dabei war. Aber ich konnte absolut nichts finden und konnte dem Drang nicht widerstehen, einen tiefen Atemzug zu nehmen, während ich meine Nase in den Strauß steckte. Zu meiner Überraschung roch ich nicht nur den bekannten Blumenduft, sondern auch noch etwas anderes. Es kam mir bekannt vor und auf irgendeine Art und Weise löste es Geborgenheit bei mir aus, aber ich konnte den Geruch nicht zuordnen. Verwirrt runzelte ich die Stirn und zuckte die Schultern, dann legte ich den Strauß vorsichtig auf den Boden unter der Bank und begann mich umzuziehen. Während des Trainings war ich nicht ganz bei der Sache, denn die Blumen gingen mir nicht aus dem Kopf. Was war das für ein Geruch gewesen? Irgendwoher kannte ich ihn und obwohl ich ihn im ersten Moment mit Geborgenheit assoziiert hatte, war ich mir da jetzt nicht mehr so sicher, denn irgendwo in meinem Gedächtnis schien sich langsam etwas zu regen. Überzeugt davon, dass ich langsam paranoid wurde, schüttelte ich den Kopf und konzentrierte mich die restliche Zeit so gut wie möglich aufs Training. Anschließend machte ich mich in Windeseile fertig, schnappte mir den Strauß und fuhr nach Hause. Zu meiner Überraschung wartete vor meiner Wohnungstür eine Besucherin. "Karin, was machst du denn hier?" Lächelnd umarmte ich meine Mutter und schloss dann die Wohnungstür auf. "Ich wollte dich einfach mal wieder sehen und hören, wie es dir so geht." "Da hättest du doch nicht gleich herfahren müssen. Ich hätte dir auch am Telefon alles erzählen können", entfuhr es mir schmunzelnd, während ich meine Schuhe auszog und meine Tasche im Wohnzimmer abstellte. "Stimmt, aber so kann ich sich fragen, woher du diesen wunderschönen Blumenstrauß hast", entgegnete Karin mit einem spitzbübischen Grinsen und ich überlegte, was ich ihr darauf antworten sollte. Doch meine Mutter schien ihre eigene Erklärung dafür zu haben. "Bist du wieder mit Julian zusammen?" "Nein", antwortete ich sofort kopfschüttelnd, während ich eine Vase aus dem Küchenschrank holte und Wasser hinein füllte, "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, von wem die Blumen sind. Sie lagen vorhin einfach auf meinem Platz in der Kabine." Mit schiefgelegtem Kopf sah Karin mich an. "Denkst du, Niklas hat sie dorthin gelegt?", erkundigte sie sich und sprach damit aus, was ich mir tatsächlich selbst gedacht hatte. "Vielleicht. Es sind nicht die ersten Blumen, die ich bekomme. Das ist schon der zweite Strauß und es sind immer rosa Gerbera, meine Lieblingsblumen." "Vielleicht ein Fan?" Ich zuckte die Schultern. "Ja, vielleicht." Insgeheim wusste ich, dass es das nicht sein konnte, weil ich niemals irgendwo öffentlich gesagt hatte, dass ich rosa Gerbera so sehr mochte, aber ich wollte das Thema nicht weiter vertiefen. "Aber du wolltest ja nicht mit mir über irgendwelche Blumensträuße reden, sondern über mein zurzeit sehr langweiliges Leben. Wo soll ich bloß anfangen? Es ist langweilig." Ich musste lachen und Karin fiel mit ein. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir mit Reden und bestellten uns zwischendurch Essen und als sie abends losfuhr, um bei Sven und Laura zu übernachten, stellte ich fest, wie gut es getan hatte, den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so ein gutes Verhältnis zu der Frau entwickeln würde, die mich als Baby weggegeben hatte, um ihre Ehe nicht zu zerstören und ihre Affäre geheimzuhalten. Es kam mir vor wie gestern, als ich bei ihr zu Hause aufgetaucht war, um sie zur Rede zu stellen, nachdem meine Mama gestorben war. An diesem Tag hatte ich meine Halbbrüder kennengelernt und mein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt worden. Beim Gedanken daran musste ich lächeln. Wo wäre ich nur ohne diese liebevollen Idioten?



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Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt