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Zur selben Zeit bei Julian:

Ich hasste es, nur an Emilys Bett sitzen, aber nichts für sie tun zu können. Fünf Tage waren vergangen, seit sie gefunden worden war und noch immer lag sie im Koma. Ihr Körper hatte extrem viele Belastungen überstehen müssen und wir hatten anfangs für jede einzelne Stunde gebetet, die sie überlebte. In den ersten Tagen nach den zwei Notoperationen war ihr Zustand alles andere als gut gewesen, aber mittlerweile war sie seit zwei Tagen stabil und vor wenigen Stunden hatten die Ärzte das künstliche Koma beendet. Emily atmete mittlerweile selbstständig, aber ob sie tatsächlich aufwachen würde, stand noch in den Sternen. Laura, Sven, Lars, ihre Eltern, Bernd, Kai, Sophia und ich hatten in den letzten Tag so ziemlich jede Emotion durchlebt, die es gab und man sah es uns allen an, was für die Paparazzi vor dem Krankenhaus natürlich jedes Mal aufs Neue gefundenes Fressen war. Auch die Tatsache, dass ich hier war wurde natürlich in den Medien lang und breit diskutiert und dass Borussia Dortmund mich mit der offiziellen Begründung Privater Notfall befreit hatte, hatte auch nicht unbedingt geholfen. Die Jungs aus der Mannschaft erkundigten sich regelmäßig bei mir, ob es irgendwelche Neuigkeiten gab, aber ich konnte ihnen nie wirklich etwas sagen. Marco war nochmal in Leverkusen gewesen und hatte Nala hergebracht, damit sich nicht die ganze Zeit mein Nachbar um sie kümmern musste. Meine Hündin verstand sich von Anfang an gut mit Emilys Hündin Bonnie und immer wenn ich mit den beiden spazieren ging, stellte ich mir vor, wie ich das irgendwann mit Emily zusammen machen würde.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, weil die Tür zur Intensivstation geöffnet wurde. Hannah, eine der Krankenschwestern, betrat den Raum und lächelte Sven und mich an, da wir gerade neben Emilys Bett lagen. "Lasst euch nicht stören, ich muss nur kurz die Werte überprüfen und eintragen." "Ich weiß, wie immer in den letzten fünf Tagen", murmelte ich leicht resigniert und Hannah schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. "Das werde ich auch noch eine ganze Weile tun müssen, aber in Zukunft werde ich Emily dann auch noch fragen, wie sie sich fühlt und sie wird mir antworten können." "Danke. Ohne deinen Optimismus hätte ich den Glauben wahrscheinlich schon fast aufgegeben", sagte Sven und ich nickte zustimmend. "Nicht dafür, das ist mein Job. Und was ich so von euch über Emily gehört habe, scheint sie eine Kämpferin zu sein, also wird sie es auch schaffen, aufzuwachen." Die Krankenschwester ließ ihren Blick über die Monitore gleiten, dann verabschiedete sie sich von uns und verließ den Raum wieder. "Sie wird aufwachen", murmelte ich in einem kleinen Anflug von Überzeugung und griff nach Emilys Hand, um sie sanft zu drücken. Sie musste aufwachen. Sie musste einfach.



Zur selben Zeit bei Emily:

Heiße Tränen liefen über meine kalten Wangen, während ich noch immer auf die Stelle schaute, wo Julian bis eben gerade gesessen hatte. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt, all die Energie, die ich in seiner Anwesenheit verspürt hatte, war wie weggeblasen. Knirschende Schritte hinter mir rissen mich aus meiner Trance und ich drehte mich in der Hoffnung auf einen blonden Haarschopf um. Enttäuscht sackte ich wieder zusammen, während meine Mutter sich mit einem traurigen Lächeln neben mich auf die Parkbank setzte. "Wieso weinst du, mein Schatz?" "Weil er weg ist", murmelte ich heiser und Mama nickte verständnisvoll. "Weißt du, wieso er weg ist?" "Nein. Im einen Moment war noch alles gut und als ich die Augen aufgemacht habe, war er verschwunden." Meine Mutter griff nach meinen kalten Händen und nahm sie sanft in ihre. "Weißt du, was gerade passiert?" Ich schüttelte den Kopf. "Du hast im Koma gelegen", erklärte mein Gegenüber und ich sah sie überrascht an. "Hat es mich so schlimm erwischt?" "Ja, du bist sehr schwer verletzt. Aber die Wunden haben begonnen zu heilen." "Heißt das, ich muss zurück?" "Du musst gar nichts. Du kannst, ja. Aber es ist allein deine Entscheidung. Das künstliche Koma wurde beendet, jetzt ist es deine eigene Entscheidung, wohin du gehst." "Und wenn ich nicht weiß, wohin ich gehen soll? Bitte sag es mir, Mama." "Das kann ich nicht, Schätzchen. Es ist dein Weg, deine Zukunft. Alles, was du in den letzten Tagen erlebt hast, jeder Ort, jeder Mensch, jedes Ereignis, sollte dir aufzeigen, welche Möglichkeiten es gibt." Langsam begann ich zu verstehen. "Das Kinderzimmer und Johannas Kreuz. Ich könnte mit dir gehen und bei euch sein. Und die Wohnungen von Sven, Lars, Julian und mir, das ist die andere Möglichkeit, nicht wahr? Ich könnte zu ihnen zurückgehen, aber dann riskiere ich, dass mir dieselben Dinge widerfahren wie zuvor. Die Explosion, Jan, das waren Warnungen. Aber was war meine Zeit mit Julian? Der Spaziergang, die Pizza, der Kuss? Diese Dinge sind so nicht passiert!" Sanft lächelte meine Mutter mich an und strich mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das kann deine Zukunft sein. Es ist nur eines von vielen Szenarien, die passieren können und sie wird nicht von selbst passieren. Du hast deine Zukunft in der Hand, du kannst dafür sorgen, dass Julian deine Zukunft ist. All das ist einzig und allein deine Entscheidung." Ich seufzte und wischte mir über die Augen, um die letzten Tränen zu vertreiben. "Ich vermisse dich und Papa und Johanna so sehr. Aber als ich in der alten Wohnung von Sven, Lars und mir war, da waren dort so viele Erinnerungen. Ja, die schlechten Sachen sind passiert, aber die guten auch. In dieser Wohnung habe ich mich mit Karin gestritten, aber dort habe ich mich auch wieder mit ihr versöhnt. In Julians und meiner Wohnung wurde viel gestritten, aber eben auch viel geliebt. Und die Zeit mit Julian, das war wunderschön und es hat sich so richtig angefühlt!" Meine Mutter schenkte mir ihr typisches Lächeln und sah mich liebevoll an. "Klingt, als hättest du deine Entscheidung getroffen." "Ich habe Angst", gab ich zu und knetete unsicher meine Hände. Um uns herum wurde der Wind stärker und fegte lose Blätter umher. Meine Mutter sah hinauf in den Himmel, wo jetzt keine Sterne mehr zu sehen waren, sondern dunkelgraue Wolken. Wie auf Knopfdruck begann es zu regnen und ich schaute mein Gegenüber panisch an. "Was ist das?" Meine Stimme war wegen eines tiefen Donnergrollens kaum zu verstehen, aber Mama hatte mich trotzdem gehört. "Deine Zeit läuft ab, du musst dich entscheiden!", rief sie und ich riss erschrocken die Augen auf. "Aber ich bin mir doch noch gar nicht sicher! Vielleicht treffe ich die falsche Entscheidung!" "Das wirst du nicht. Du musst dir nur endlich eingestehen, was du tief in deinem Inneren schon längst weißt. Du hattest einen Anker, während Jan dich in seinem Keller festgehalten hat! Es war dir vielleicht gar nicht richtig klar, aber unterbewusst hast du nur deswegen durchgehalten. Weil du ohne ihn nicht leben könntest und du weißt, dass es ihm genauso geht! Emily, sag es! Wer war dein Anker?" Der Wind zerriss ihre Worte in der Luft, aber ich hörte sie trotzdem, schloss die Augen und sah ein vertrautes Lächeln. "Julian!", schrie ich so laut ich konnte gegen den Lärm und dann war es plötzlich totenstill.

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt