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"Wow, das sieht wirklich bequem aus", entfuhr es Julian mit Blick auf das große Sofa, das ich zu einer gigantischen Schlaffläche gemacht hatte, auf der locker drei Leute Platz hätten finden können. "Es ist auch wirklich gemütlich, das hab ich vor dem Kauf selbst getestet", stimmte ich zu, während ich ein Kissen bezog und es anschließend auf die Couch schmiss. Die Decke hatte mein Gast in der Zwischenzeit bezogen und schneller als erwartet war alles hergerichtet. Julian hatte bereits sein Auto geholt, das er sogar nur wenige Straßen entfernt geparkt hatte und jetzt standen seine Schuhe neben der Wohnungstür und schickten mich damit in die Vergangenheit, die nur wenige Monate zurücklag. Schnell bemühte ich mich, wieder in die Gegenwart zu kommen. "Also, das Bad hab ich dir ja gezeigt, die Küche auch und im Notfall weißt du auch, wo ich schlafe. Brauchst du sonst noch irgendwas?" Lächelnd schüttelte Julian den Kopf. "Nein danke, ich hab alles. Du kannst ruhig in dein warmes, bequemes Bett gehen und schlafen." Bei seinen Worten musste ich schmunzeln, dann wünschte ich dem Blonden eine gute Nacht, holte mir aus dem Schlafzimmer mein Schlafshirt, das eigentlich mal ein T-Shirt von Sven gewesen war, und meine Shorts und verschwand im Badezimmer. Nachdem ich dort fertig war, öffnete ich zuletzt noch die geflochtenen Haare, sodass die üblichen Strähnen sich ihren Weg auf meine Stirn und in meine Augen suchen konnten. Dann verließ ich das Bad und tapste ins Schlafzimmer, wo ich die Tür hinter mir schloss und mich erschöpft ins Bett fallen ließ. Was war das bloß für ein verrückter Abend gewesen? Und wieso zum Kuckuck hatte ich meinen Exfreund angeboten, in meinem Wohnzimmer zu übernachten? Aber zu meiner Überraschung musste ich mir selbst eingestehen, dass es sich richtig anfühlte zu wissen, dass Julian hier schlief und nicht in irgendeinem Hotel. Mit einem kurzen Blick kontrollierte ich, dass Bonnie bequem in ihrem Körbchen lag und musterte, wie sich ihre Flanke in regelmäßigen Abständen hob und senkte. "Ach Bonnie, was hab ich mir bloß dabei gedacht, hm?" Natürlich erhielt ich keine Antwort auf meine geflüsterte Frage, aber ich wagte zu bezweifeln, dass es darauf überhaupt eine plausible Antwort gab. Seufzend knipste ich meine Nachttischlampe aus und versuchte zu schlafen, was mir aber absolut nicht gelang. Unruhig wälzte ich mich hin und her, während ich von immer mehr Erinnerungen überflutet wurde. Julian und ich bei unserer ersten Begegnung. Damals hatte ich ihn kaum wahrgenommen, meine Aufmerksamkeit hatte auf meinen Brüdern gelegen, die ich damals ja erst ganz neu kennengelernt hatte. Ich dachte an die Party, bei der wir beide zu viel getrunken und am Ende miteinander geschlafen hatten ohne zu wissen, welche Folgen das haben würde. Ich erinnerte mich daran, wie mein Auto im Winter nicht angesprungen war und Julian versucht hatte mir Starthilfe zu geben. Letztendlich war uns beiden meine Motorhaube gegen den Kopf geknallt und wir hatten beide eine Gehirnerschütterung gehabt, aber diese Geschichte hatten wir niemals jemandem erzählt. Es war unser kleines Geheimnis gewesen, eines, über das wir immer wieder lachen mussten, wenn wir uns daran zurückerinnert hatten. Vor meinem inneren Auge sah ich Julian, während ich ihm erzählte, wieso ich auf dem Fußballfeld zusammengebrochen war und wie wir unser verlorenes Baby Johanna genannt hatten, während über uns die ersten Sterne aufgegangen waren. Als wäre es gestern gewesen, spürte ich den schwachen Nachgeschmack von Julians Lippen auf meinen, als er mich in Svens, Lars' und meiner Wohnung einfach so geküsst und mir gestanden hatte, dass er in mich verliebt war. Wie ein Film in doppelter Geschwindigkeit liefen all diese Szenen vor meinem inneren Auge ab, bis ich beim heutigen Abend angekommen war. Julians trauriger Blick, als ich ihm gestand, wie schmerzhaft es für mich war, neben ihm zu sitzen, als ob nichts gewesen sei. Und schließlich sein Lächeln, als er mein Angebot annahm, hier zu übernachten. Automatisch begann ich ebenfalls zu lächeln, dann seufzte ich leise und schlug die Augen auf. Nein, ich konnte nicht schlafen. Nicht hier, nicht so. Nicht, wenn ich wusste, dass Julian im Wohnzimmer auf der Couch lag. Mein Blick glitt zum Wecker auf dem Nachttisch, der mir zeigte, dass ich bereits seit knapp zwei Stunden versuchte, einzuschlafen. Kurzerhand schlug ich meine Bettdecke zurück und verließ auf Zehenspitzen mein Schlafzimmer. Durch die Schlitze der Jalousie glitt ein Teil des Mondlichts in Streifen ins Wohnzimmer und ich wollte gerade wieder umdrehen, weil Julian so aussah, als ob er schlafen würde, als seine leise und doch klare Stimme mich aufhielt. "Ist dein Bett doch nicht so bequem und warm, wie ich dachte?" Ich lief näher und sah, dass er die Augen geöffnet hatte und mich mit einem winzigen Lächeln musterte. Unsicher zuckte ich die Schultern. "Doch, das schon. Aber es fehlt was. Deshalb kann ich nicht schlafen." Jetzt wurde das Lächeln auf Julians Lippen ein wenig größer und er hob stumm die Decke an, unter der er lag. Für einen kurzen Augenblick rang ich mit mir, aber dann wurde mir bewusst, dass es das unweigerlich zu passierende Geschehen war und zwar seit dem Moment, in dem ich mein eigenes Bett verlassen hatte. Also gab ich mir einen Ruck und lief zum Sofa, wo ich neben Julian unter seine Decke kroch. Sofort wurde mir angenehm warm und Julian legte zusätzlich von hinten einen Arm um mich, wodurch ich mich endgültig geborgen und sicher fühlte. Jetzt erlaubte auch ich mir ein kleines Lächeln und schloss müde die Augen. "Gute Nacht Julian." "Gute Nacht Muffin." Dass er meinen alten Kosenamen verwendete, bekam ich im Halbschlaf kaum noch mit.

Verschlafen blinzelte ich und öffnete schließlich die Augen. Seit wann schien die Sonne morgens in mein Zimmer? Verwirrt sah ich mich um, dann fiel mir wieder ein, wo ich war. Das hier war nicht mein Schlafzimmer, sondern das Wohnzimmer. Und das bedeutete- Ich drehte mich zur Seite und entdeckte verstrubbelte hellblonde Haare, die unter der Decke hervorragten. Was zum Henker war bloß in mich gefahren letzte Nacht? Wieso war ich hergekommen und hatte eng an Julian gekuschelt geschlafen? Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, schälte ich mich aus meinem Teil der Decke und stand auf. Im Badezimmer spritzte ich mir erstmal eine ordentliche Ladung Wasser ins Gesicht und starrte dann entgeistert mein Spiegelbild ein. "Du bist eine Idiotin, Emily Bender. Eine Idiotin", schimpfte ich mit mir selbst, dann trocknete ich mein Gesicht ab, beendete meine Morgenroutine und lief ins Schlafzimmer, wo ich in ein T-Shirt und eine Hotpants schlüpfte. Bonnie erwartete mich bereits und ich knuddelte sie ausgiebig, bevor ich mit ihr im Schlepptau das Zimmer verließ. Barfuß lief ich zurück ins Wohnzimmer, wo Julian mittlerweile ebenfalls aufgewacht war und aufrecht auf der Sofakante saß. Als ich den Raum betrat, sah er auf und lächelte mich verschlafen an. "Guten Morgen." Seine raue Morgenstimme jagte mir einen angenehmen Schauer über den Rücken. "Guten Morgen. Hast du Hunger auf Frühstück?" Sofort nickte der Blonde. "Ja, ich geh mich nur kurz frisch machen und mir was anderes anziehen." Mit diesen Worten stand er auf und ging und ich bereitete in der Küche Frühstück für uns und Bonnie vor. Als wir eine knappe Viertelstunde später am Tisch saßen und unser Müsli löffelten, herrschte eine unangenehme Stille, die ich irgendwann brach, weil ich es nicht mehr aushielt. "Wegen letzter Nacht- Also, ich- ich hab keine Ahnung, was da in mich gefahren ist. Können wir vielleicht so tun, als sei das nie passiert?" Verständnisvoll nickte Julian. "Natürlich. Ich werd dir auch nicht mehr lange hier auf der Pelle rücken, ich hab noch ein Hühnchen mit Kai zu rupfen und bin mit Stefan verabredet." "Alles klar. Dann also alles wie vorher?", versicherte ich mich und bekam ein Nicken zur Antwort. "Alles wie vorher." Dass diese Worte jedem von uns einen schmerzhaften Stich versetzten, verrieten weder Julian noch ich.

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt