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Ich verfluchte all die Filme, die ich gesehen hatte, in denen jemand entführt wurde. Wie oft hatte ich mir sowas angeschaut und gedacht, dass es gar nicht so schlimm zu sein schien, wenn man alleine war und der Entführer einen gerade in Ruhe ließ. Mittlerweile war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass die Stunden ohne Jan beinahe schlimmer waren, als die mit ihm. Denn all seine Beschimpfungen und Schläge waren nichts gegen die überwältigende Verzweiflung, die mich überkam, sobald ich in vollkommener Ruhe und Dunkelheit saß. Dann schlichen sich die Ängste in meinen Kopf und lähmten mich bis ich kaum noch atmen konnte. Aber geweint hatte ich nicht mehr. Aus irgendeinem Grund, konnte ich es einfach nicht mehr und was hätte es denn auch gebracht, wenn ich mir die Seele aus dem Leib geheult hätte? Stattdessen versuchte ich mich abzulenken und nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Die Dunkelheit des Kellers und mein geschwollenes Auge machten es mir schwer, irgendwas in meinem Gefängnis zu erkennen und ich hatte ja auch keinen blassen Schimmer, wo das Haus stand, in dessen Keller ich mich befand. Seufzend legte ich meinen Kopf ein wenig in den Nacken in der Hoffnung, dass die pochenden Kopfschmerzen dadurch besser werden würden, aber gerade, als ich mir für einen kurzen Moment erlauben wollte, die Augen zu schließen, zuckte ich zusammen, denn über mir waren Schritte zu hören. Angespannt lauschte ich und stellte fest, dass sie immer lauter wurden und näher kamen. Nur wenige Sekunden später wurde die Tür geöffnet und ich drehte meinen Kopf, da ich mit dem Gesicht zur geschlossenen Wand saß. Im schwachen Licht, das durch das verdreckte kleine Fenster zu meiner linken schien, erkannte ich Jan. Instinktiv richtete ich mich so gut wie möglich auf und straffte die Schultern, denn ich würde vor diesem Schwein mit Sicherheit keine Schwäche zeigen. Mit einem barbarischen Grinsen näherte er sich mir und strich mit seinem Finger leicht über meinen Arm, was mich zusammenzucken ließ. "Ganz ruhig mein Schatz, ich tu dir noch nichts. Na ja, jedenfalls noch nicht. Erstmal möchte ich mich nur ein bisschen mit dir unterhalten." Er zog sich aus einer der Ecken einen Stuhl heran, stellte ihn verkehrt herum vor mich und macht es sich darauf bequem. Die Arme stützte er auf der Lehne ab und musterte mich stumm von oben bis unten, wobei sein Grinsen nur noch größer wurde. "Haben dir meine Geschenke gefallen?" Ich schluckte und schwieg, sah ihn einfach nur an und unterdrückte das Bedürfnis, den Blick zu senken. "Ich hab dich was gefragt!", schrie er plötzlich und ich riss die Augen auf und schreckte zurück. Plötzlich grinste er nicht mehr, sondern sah mich bedrohlich an. "Antworte mir", zischte er und ich erwiderte mit zitternder Stimme: "Sie waren schön. Ich hab lange keine Blumen mehr bekommen." Der jämmerliche Klang meiner Stimme hallte in meinen Ohren wider. "Dein geliebter Julian war wohl nicht besonders aufmerksam, was? Sonst hätte er dir auch rosa Gerbera geschenkt. Oder Milka-Schokolade mit ganzen Oreokeksen darin. Oder einen historischen Roman von deinem Lieblingsautor Jeffrey Archer." Ich schluckte und schwieg, weil ich nicht wusste, was er jetzt hören wollte. Aber anscheinend rechnete er gar nicht mit einer Antwort, stattdessen stand er urplötzlich auf und lief zu mir. Er stellte sich hinter mich und ich wagte weder zu atmen, noch meinen Kopf zu drehen, um ihn weiter im Blick zu behalten. Ich spürte, wie er eine meiner Haarsträhnen nahm und anhob und wartete mit angehaltenem Atem darauf, was als nächstes passieren würde. Mit einem heftigen, unerwarteten Ruck zog er daran und mein Kopf flog mit nach hinten. Mir entwich ein Schmerzensschrei, doch der konnte nicht übertönen, dass es in meinem Nacken laut knackte. Jan ließ lachend los, während ich leise wimmerte. Doch bevor ich wieder ganz zu Sinnen kommen konnte, stand er plötzlich vor mir und legte seine Hände um meinen Hals. Sie waren heiß wie Feuer auf meiner unterkühlten Haut, doch bevor ich mich an die Temperatur gewöhnen konnte, hatte er bereits begonnen zuzudrücken. Instinktiv riss ich die Augen auf, kämpfte gegen die Fesseln, um mich loszumachen, um seine Hände von meinem Hals zu lösen, um mein Leben zu retten. Schwarze Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen, mir war schwindelig und schlecht, ich schnappte keuchend nach Luft, während er mich immer fester würgte. Doch dann, so plötzlich wie er begonnen hatte, hörte er wieder auf. Sofort atmete ich tief ein und hustete, der Geschmack von Magensäure machte sich in meinem Mund breit und im nächsten Moment erbrach ich mich auf meinen eigenen Schoß, weil die Fesseln verhinderten, dass ich mich weiter nach vorne beugen konnte. Ich spürte, wie die Galle durch den Stoff meiner dünnen Hose sickerte, während Jan bloß wieder grinste. "Tz tz tz, so schwach. Arme kleine Emily, war dir das etwa schon zu viel?" Von oben herab sah er mich an, als wäre ich nichts weiter als ein widerliches Tier, das seinen Keller verdreckte und mir wurde klar, dass mein Plan, keine Schwäche zu zeigen, gescheitert war. Eine einzelne Träne lief über meine Wange und tropfte von meinem Kinn, ich konnte nichts dagegen tun. Und Jan bemerkte sie mit Genugtuung, bevor er mir ein letztes Mal übers Haar strich und den Raum verließ. Zurück blieb ein Häufchen Elend, gefesselt an einen Stuhl und verlassen von aller Kraft.


Einen Tag zuvor bei Julian:
Als ich Kai geschrieben hatte, dass Marco und ich in Leverkusen angekommen waren, hatte er mir geantwortet, dass sie alle gemeinsam mit der Polizei in Emilys Wohnung waren, also fuhren wir ebenfalls dorthin. Es kam mir so unwirklich vor, das Haus zu betreten, in dem ich gerade erst zum ersten Mal in meinem Leben gewesen war und wo so viel passiert war, das mich aufgewühlt hatte. Als ich an der Wohnungstür klopfte, zitterte meine Hand und ich war unendlich dankbar, dass Marco mir angeboten hatte, mich zu begleiten. Er hatte einen erheblichen Anteil daran, dass ich zum BVB gegangen war und er hatte von Anfang an sein Bestes gegeben, damit ich mich wohl fühlte. Hinter der Tür erklangen Schritte, dann wurde sie geöffnet und mein bester Freund stand vor mir. Er war ungesund blass, aber ich ahnte, dass ich nicht gerade besser aussah. Mit wenigen Schritten überbrückte ich den Abstand zwischen uns und zog ihn in meine Arme. Wie ein Ertrinkender klammerte ich mich an ihn und für einige Augenblicke hielten wir uns einfach nur aneinander fest. Dann löste ich mich von ihm und er nickte hinter sich. "Die anderen sind im Wohnzimmer." "Danke." Während Kai Marco begrüßte, lief ich bereits ins Zentrum der Wohnung, wo eine total verheulte Sophia auf mich zulief und mich fest umarmte. "Gott sei Dank bist du hier. Es ist so schrecklich!" Tröstend legte ich meine Arme um sie und strich ihr sanft über den Rücken, während ich meinen Blick über die anwesenden Personen schweifen ließ. Emilys Brüder Sven und Lars standen blass nebeneinander, Ersterer hatte seinen Arm schützend um seine Verlobte Laura gelegt, die ihren Sohn Lennard beim Spielen mit Emilys Hündin Bonnie beobachtete, während ihr gelegentlich eine Träne vom Gesicht tropfte. Daneben stand ein Mann in Polizeiuniform, während eine weibliche Beamte gerade Emilys Schubladen durchsuchte. "Gut dich zu sehen", murmelte Sven, sobald ich mich von Sophia gelöst und ihn und seinen Bruder mit einer kurzen Umarmung begrüßt hatte. Dann wandte ich mich an den Polizisten. "Haben Sie schon eine Spur?" Er öffnete gerade den Mund, um mir zu antworten, als seine Kollegin ihn unterbrach. "Hey David, ich hab hier was." Sofort hatte sie die Aufmerksamkeit aller Personen im Raum und ich sah, wie sie einen Karton unter dem Wohnzimmertisch hervorzog. Vorsichtig öffnete sie ihn und zog zunächst ein Buch heraus, dann eine Schachtel Pralinen und noch allerhand anderes Zeug. Zuletzt brachte sie einen Stapel Karten zum Vorschein, die sie ihrem Kollegen reichte, der sich mittlerweile ebenfalls Handschuhe angezogen hatte. Während er die Karten durchlas, wurde seine Miene zunehmend ernster und nachdem er die letzte Karte gelesen hatte, sah er zu meiner Überraschung direkt zu mir. "Sie heißen doch Julian, richtig?" "Ja, wieso?" "Weil in dieser Karte von Ihnen die Rede ist. ››Na, kommt die Farbe der Rosen den Haaren deines geliebten Julians nah? Ich kann nicht glauben, dass du wirklich wieder zu ihm zurückgehst. Ist eine Gasexplosion nicht ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass eine Beziehung gescheitert ist?‹‹." Automatisch fiel mein Blick auf den Strauß blassgelber Rosen, die in einer Vase auf dem Tisch standen und offensichtlich dringend frisches Wasser brauchten. Wer hatte das geschrieben? Und was hatte das alles mit Emilys Entführung zu tun?

Plötzlich zwei Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt