Kapitel 61~ Die Dämmerung

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Ich stellte mich vor das Fenster. Wir alle warteten noch immer auf Jonathan, der in Theos Zimmer ist. Er bekam die Zeit, weil er sein bester Freund war. Und die Zeit brauchte. Eigentlich tun wir das nur, weil er krank ist. Nur aus Mitleid.

Aber es war mir auch egal, ich konnte mich verabschieden und es würde mich noch mehr zerstören, wenn ich noch einmal da rein müsste. Und derzeit gehen mir auch andere Dinge durch den Kopf. Zum Beispiel das Bild, dass sich gerade jetzt, in der Zeit in der ich um Theo trauere, im Internat verbreitet. Glücklicherweise bin ich nicht selbst dort, hier kann ich mich zurück ziehen.

Mein Handy klingelte. Ich bekam ein Bild von Kristen geschickt.

Ich atmete tief durch. Ironie des Schicksal. Es kostete mich Überwindung, es anzuklicken, aber als ich es sah, beruhigte ich mich. Man konnte von mir nur meine Beine und meinen Bauch sehen, mehr zum Glück nicht.

Ich atmete tief durch, zwar gibt es das Bild, und es wird gerade verbreitet, aber nichts muss mir peinlich sein.

,,Hast du dich schon von ihm verabschiedet?", fragte mich Damon besorgt und stellte sich neben mich. Wie ich blickte er aus dem Fenster und sah einem roten Auto nach. Ich nickte leicht, was er im Augenwinkel sehen konnte. Er drehte seinen Kopf in meine Richtung: ,,Vielleicht ist es besser wenn er stirbt". Ich zuckte mit meinen Schultern. Natürlich hatte Damon recht, Theo erlitt Knochenbrüche und verlor sogar ein Bein. Nun ist er seinen Eltern nah, warum sollte er nicht loslassen wollen?

,,Es hieß er war in Richtung Internat unterweg", sagte Damon, da ich ihm keine vernünftige Antwort gab. Meine Augen weiteten sich und sofort sah ich Damon geschockt an: ,,Wieso?", doch Damon zuckte nur mit seinen Schultern: ,,Ich würde ihn gerne Fragen".

Ja, Damon, ich auch.

Es war 6:29 Uhr und Jonathan war noch immer da drin, doch das war für mich Zweitrangig. Als ich nämlich meinen Kopf hob, um zu sehen, ob schon jemand dazu kam, oder gegangen ist, blickte mir ein braun-haariges Mädchen in die Augen. Sie sah auf ihre Uhr. Sie war bestimmt viel kleiner und zierlicher und schöner als ich und irgend ein Gefühl sagte mir, dass ich sie kenne. Damon setzte sich neben mich. ,,Wer ist das?", fragte ich ihn, in der Hoffnung, er würde mir Aufklärung bieten können. ,,Marie".

Eigentlich sollte ich sauer sein, oder traurig, da seine erste große Liebe direkt vor mir stand. Warum ist sie hier? Hatten sie noch Kontakt? Liebt sie ihn noch? Vielleicht ist es sogar seine Freundin. Ich übernahm die Initiative. ,,Hey", sagte ich und stand auf. ,,Hey?", sagte sie fragend und blickte mich an. ,,Mein Name ist Èlaine...", denk dir was aus Èlaine: ,,Theos beste Freundin. Bist du Marie?". Sie nickte. ,,Ich wusste ja gar nicht, dass ihr wieder Kontakt hattet", sagte ich, als wüsste ich Bescheid. ,,Hatten wir nicht, aber als die Nachricht bei mir ankam, wusste ich, dass ich kommen muss. Ich fühlte mich schon fast verpflichtet". ,,Also liebst du ihn noch?", fragte ich sie aus. Aber sie schüttelte den Kopf: ,,Nein, aber ich denke noch oft zurück". Ich atmete entspannt aus. Ich nickte: ,,Okay. Echt toll das du gekommen bist".

Marie sah so verdammt gut aus, sie war klein, dünn, hatte wunderschöne Haut, grüne Augen, schön geschminkt, hat einen tollen Stil, einfach perfekt. Wie konnte er sie gehen lassen?

Ich grinste sie leicht an, sie war nett, sogar richtig nett, um ehrlich zu sein.

,,Kann ich zu ihm rein?", fragte sie besorgt. Zuerst zuckte ich mit meinen Schultern: ,,Ich schau mal nach, wie weit Jonathan ist". Sie nickte. Anscheinend kannte sie Jonathan.

Ich klopfte an der Tür, aber da er nichts sagte, öffnete ich sie langsam und blickte hinein. Anfangs konnte ich Jonathan gar nicht sehen, doch dann wünschte ich mir, ich hätte ihn nicht gesehen. ,,Jonathan!", schrie ich und rannte zu ihm. Mit Tränen über die Wangen laufend saß er auf dem Stuhl, Richtung Fenster schauend und beide Pulsadern an den Handgelenken, mit einer Klinge, aufgeschnitten. Ich riss ihm das Ding aus der Hand, schnitt mich dabei, was mir aber gleichgültig war und packte mir sofort seine Hände, um Druck auf den Schnittwunden auszuüben. ,,Marie! Ruf einen Arzt, oder sonst was!", schrie ich sie schon fast an, als mir eine Träne die Wange herunter kullerte. ,,Wieso machst du das?". Noch immer saß er starr auf dem Stuhl, sagte gar nichts. Leicht rüttelte ich an ihm: ,,Jonathan!". Noch immer keine Reaktion. Weinend legte ich meinen Kopf auf seine Schulter, erst dann bewegte er sich und umarmte mich.

Kurz bevor der Arzt kam und ihn packte, sagte er zu mir: ,,Was du eben für mich gemacht hast, hat auch Theo schon für mich gemacht".

Ich weiß nicht, was er damit meinte, aber keine 20 Minuten später kam der Arzt wieder.

,,Er hatte es nicht überlebt. Es tut mir sehr Leid". Er sah nach unten, drückte mich kurz. Der Arzt war sehr jung, dann ging er wieder.

Noch eine Stunde, dann werden sie Theo abschalten.

Damon nahm mich in den Arm. Immer wieder kam mir der Gedanke, warum ich eigentlich noch leben will. Theo stirbt. Jonathan ist tot. Das Bild von Kristen wird mich zerstören. Alles ist scheiße. Wahrscheinlich ist es das beste, wenn ich das Internat verlassen würde. Und mein Projekt als gescheitert ansehen. Und das werde ich auch machen, wenn Theo sterben wird.

Immer mehr kamen, immer mehr verabschiedeten sich.

Noch 50 Minuten.

Noch 46 Minuten.

Ich saß auf dem Flur, noch immer gegen die Wand gelehnt.

Noch 32 Minuten.

Ob ich noch einmal zu ihm darf?

Noch 29 Minuten.

Damon fing an zu weinen. Ich stand auf und nahm ihn in die Arme.

Noch 22 Minuten.

Ich werde Theo verlieren.

Noch 19 Minuten.

Er wird nicht mehr aufwachen.

14 Minuten.

Wie kann die Zeit so schnell vergehen.

Noch 9 Minuten.

Die Ärzte nehmen es streng. Sie werden die Geräte auf die Sekunde genau ausschalten.

Noch 8 Minuten.

Theo stirbt und konnte noch nicht sein Leben leben.

Noch 7 Minuten.

Das kann ich doch nicht auf mir sitzen lassen?

Noch 6 Minuten.

Seine Eltern und die Ärzte betreten das Zimmer. Auch Damon ging mit rein.

Noch 5 Minuten.

Ich beobachte den Sekundenzeiger meiner Uhr.

Noch 4 Minuten.

Nein, dass kann ich nicht zu lassen. Ich muss mich richtig verabschieden.

Noch 3 Minuten.

Ich stand auf, rannte an die Tür, um diese aufzureißen. Alle blickten mich an. Ich stieß Damon zur Seite, mir egal, was er von mir denken wird. ,,Ich liebe dich", flüsterte ich und küsste ihn. ,,Ich möchte, dass du kämpfst. Kämpfe!".

Noch 2 Minuten.

Aussichtslos. ,,Kämpfe, verdammt! Theo!"

Noch 1 Minute.

,,Ich liebe dich. Komm zurück ins Internat. Ich werde dich nicht verlassen". Ich konnte nicht stark bleiben.

Punkt 9:00 Uhr.

Ein Arzt sah mich traurig an: ,,Es tut mir Leid, aber bitte geh vom Bett weg".

,,Nein", sagte ich und betete, dass er wach wird. ,,Entferne dich vom Bett".

,,Gibt ihm noch eine Minute. Er kämpft. Ich weiß es". Ich weiß es nicht, aber ich glaube an ihn.

9:01 Uhr.

,,Ich weiß der Himmel ist verlockend. Aber hier ist deine Familie, hier ist Marie. Ich bin hier. Ich warte hier. Damon auch. Matt auch. Ich liebe dich".

Und da war es.

Das Zucken.

Ich konnte es sehen. Ein Arzt auch.

Dann öffnete Theo seine Augen.

Er hatte es geschafft.

Ich lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Ich vergaß die Welt. Ich vergaß die Ärzte, seine Eltern und auch Damon. Ich sah nur Theo und mich. Das er lebt. Ich liebe ihn.

,,Vor dem Unfall wollte ich zu dir kommen", sagte er, bevor mich der Arzt aus dem Zimmer schob.

Ich grinste.

Matt saß da, weinte. Milanas Arm um ihn. Marie weinte, andere Freunde. Theos Mitbewohner, Verwandte. Ich grinste, sagte, sodass mich jeder hören konnte, aber dennoch nicht zu laut: ,,Er lebt".

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