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Lillith
Mein Atem kam nur abgehackt über meine Lippen und mein Körper erzitterte vor den anstürmenden Gedanken, Gefühlen und Bildern.
Blut Blut Blut Blut Blut.
Das war alles, was ich denken konnte. Wasser lief meinen Rücken herunter, an meinen Händen war die zermatschten Himbeeren getrocknet und ließ es noch mehr nach Blut aussehen.

Ich rollte mich fester zusammen und vergrub den Kopf.

Das alles soll aufhören. Einfach aufhören. Ich kann das nicht mehr. Das ist zu viel. Zu viel. Zu viel.
Zu viel Blut. Zu viele Tote.

Kai stand ein paar Meter von mir entfernt und hatte sich an die Brust gefasst. Sein Atem kam genauso stoßweise, wie meiner und man sah seine Hände zittern. Er musste sich sogar an dem Geländer der Hängebrücke abstützen. Kai war blass und seine Augen weit aufgerissen. Ich atmete zittrig aus, er tat dasselbe. Ich schnappte panisch nach Luft und er auch.

Für einen Moment waren seine Augen ein Spiegelbild von meinen, dann hatte er sich gefasst. Die Panik verschwand und er atmete langsam aus.

Ich bemerkte ihn nicht. Das einzige, was ich sah waren die Gesichter der Schüler. Eines nach dem anderen zog vor meinen Inneren Auge vorbei. Eines die Augen ängstlich aufgerissen, eines die Züge gequält verzerrt.
Ein Schluchzen drang aus mir heraus und ich krallte meine Hände in meine Arme. Bohrte die Nägel ins Fleisch.

Ich hatte einen Punkt erreicht an dem ich zu lange meinen Gefühlen ausgesetzt war. Ich sah zu viel, spürte zu viel und dachte zu viel. Meistens schaffte ich es die Erinnerungen auszublenden. Aber jetzt war es schon zu spät. Ich konnte die Flut nicht aufhalten.

Die Brücke wackelte, als Kai sich mir näherte und hinkniete.
„Lillith!", sagte er eindringlich, „Lillith!"
Doch ich hörte ihn nur am Rande. Seine leicht zitternde Stimme wurde übertönt von den Schreien meiner Opfer, die in meinen Ohren gellten.
Ich schrie mit ihnen. Aber kein Laut kam über meine Lippen.

Ich merkte wie Kai sich die Ohren zuhalten wollte, aber stattdessen hob er mich hoch. Es schien ihm nicht schwer zu fallen und ich rollte mich nur weiter zusammen. Schluchzend, zitternd und unfähig die Augen zu öffnen.

Mädchen! Du musst deine Gefühle unter Kontrolle kriegen! Lange halte ich deine Magie nicht zurück.
Verschwinde!
Ich bin nicht für die Bilder verantwortlich du musst sie ausblenden.

Aber jetzt tauchte Alenia auf. Die Alenia aus meinem Traum. Tot. Am Boden. Verblutet und die Augen geöffnet, die mit stumpfen Blick ins Leere starrten.
Dann sah ich Devon. Auch er leblos und kalt. Aber ich konnte nicht zu ihm. Mein Rücken tat zu weh, um mich zu bewegen.
Und dann kam Castriel. Mit seiner Peitsche aus Eisen, die sich in meinen Rücken bohrte.

Kai rannte mit mir im Arm los. Ich spürte sein rasendes Herz, das mit meinem im Einklang schlug nicht. Er spürte, das was ich spürte. Aber er konnte es ausblenden. Ich war meinen Empfindungen schutzlos erlegen.

In einem hohen Tempo legte er die Strecke zu Sana zurück. Ohne zu klopfen stieß er die Tür mit einem Tritt auf und stürzte rein. Sana sah von einer Schüssel mit Mörser auf, doch ihr Blick wandelte sich von Verwirrung zu Sorge.

„Leg sie hin!", Sana deutete auf das Bett und Kai tat, was sie sagte. Ich spürte die weiche Matraze und das Laken, aber das reichte nicht, um mich in die Gegenwart zurückzurufen. Ich blieb ein eingerolltes, wimmerndes, zitterndes Bündel.

Sana fühlte meinen Puls und Stirn. Mir war der kalte Schweiß ausgebrochen und mein Herz raste, als wolle es aus meinem Brustkorb ausbrechen.
„Das ist eine Panikatacke", stellte Sana fest, „Eine ziemlich schlimme."
Kai stieß zitternd den Atem aus: „Ich weiß."

Lillith die Quelle der MagieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt