November 2019
Still und dunkel lag das Haus vor mir, nur der Wind war zu hören und ein paar Nachttiere, die im naheliegenden Wald vor sich hin wuselten. Es war eine friedliche Stille, eine ruhige, schlafende. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Kein Wunder, es war ja auch mitten in der Nacht.
Und doch stimmte etwas nicht. Etwas war anders, etwas war... da. Leise zog ich mir die Maske auf den Kopf und trat näher zu dem offenen Fenster, welches ins Zimmer meiner Mutter führte. Mein Zuhause. Meine Familie.
Ohne auch nur ein Geräusch zu verursachen, kletterte ich hinein und blieb in dem dunklen Raum stehen. Ich hatte alles tief nach hinten geschoben, etwas was ich seit langer Zeit nicht mehr geschafft hatte. Und in diesem einen Moment war ich nur ich. Ich, Pia Schröder. Meine Mauern waren verschwunden, meine Angst hinfort, meine Unsicherheit, mein Zorn, mein Hass. Und Rabbit... Rabbit war still. Für diesen Moment ließ sie mich das kleine Mädchen sein, dass ich tief in mir immer noch war. Das immer noch an dieser beschissenen Straße stand und wartete.
Darauf, dass seine Mutter aus dem Haus kommen würde um es in den Arm zu nehmen. Darauf, wieder einen Weg zu finden nach Hause zu kommen. Denn alleine konnte es es nicht schaffen. Denn etwas hielt es zurück, wie eine unsichtbare Wand an der es alleine nicht mehr vorbei kam. Und so blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten.
Aber die Mutter war nicht gekommen. Und so stand das kleine Mädchen jetzt vor dem offenen Fenster, das dennoch zu hoch war um hinein zu kommen.
Ich schaute auf das Bett, indem meine Mutter lag. Selbst im Schlaf hatte sie tiefe Sorgenfalten auf ihrer Stirn, ihre Hände lagen verkrampft um die Decke gekrallt. Meine Mutter.
Sie war nicht in der Lage gewesen mich zurück zu holen. Die Mutter für mich zu sein, die ich gebraucht hätte. Und sie wusste es und hasste sich selber dafür. Und trotzdem hatte sich mich verloren. Und so stand ich hier also. Das kleine Mädchen stand vor dem Fenster zu seinem Zuhause, so nah und doch so unerreichbar.
Leise trat ich ganz nah an das Bett meiner Mutter heran, und sah auf ihre schlafende Gestalt hinunter. Langsam ließ ich den Blick über sie gleiten, und folgte einer langen, schwarzen Spur bis an die Decke des Zimmers. Ein großes, unnatürliches Wesen schwebte über ihr. Es hatte kleine, hasserfüllte Augen verteilt über den ganzen rauchig-wabbeligen Körper dieses Etwases, mehrere Mäuler mit nadelartigen Reißzähnen und mehrere mit Klauen besetzte Arme, die sich alle in meine Mutter gekrallt hatten.
Und aus jedem dieser abstoßenden Mäuler flüsterte es. Selbst im Schlaf ließ es nicht von meiner Mutter ab, im Gegenteil. Es flüsterte in einer endlosen Dauerschleife die grausamsten Gedanken ein, wie abstoßend sie doch war, wie unnütz, wie wertlos.
"Versager." hauchte es, "Versager, Versager, Versager." Immer wieder. Ich biss die Zähne zusammen.
Dieses Etwas war das Produkt der Schuldgefühle, die sich meine Mutter seit Jahrzehnten machte. Das Päckchen, dass sie mit sich herum schleppte, die Ketten die sie davon abhielten über sich hinaus zu wachsen, endlich glücklich zu werden.
Zu dem kleinen Mädchen am Straßenrand zu kommen und es nach Hause zu bringen.
Langsam zog ich das Katana von meinem Rücken und fixierte das Monster über meiner Mutter, ihren ständigen Weg Begleiter.
Den eine Sache war unverändert. Wie auch immer die Umstände waren, sie war nicht gekommen. Aber alleine wäre dieses kleine Mädchen gestorben. Denn es war nicht dafür gemacht dieser großen, weiten Welt ausgesetzt zu sein, ohne Halt, ohne einer Person die es hielt und schützte.Und da niemand über all die Jahre gekommen war, so hatte sie sich selber jemanden gemacht.
Es hatte zu schneien begonnen. Große, dicke Flocken fielen still und leise vom dunklen Himmel und kamen auf dem kalten Asphalt zum Liegen. Die Einsamkeit war fast unerträglich. Und ganz langsam verlor das kleine Mädchen auch den letzten Rest an Hoffnung. Denn niemand war gekommen.
Doch dann legte sich eine warme Hand auf die Schulter des kleinen Mädchens.
Mit einer einzigen, fließenden Bewegung hob ich das Katana und trennte die Tentakel des Monsters von meiner Mutter, durch die es sich genährt hatte und immer weiter gewachsen war, bis es zu groß geworden war, als dass meine Mutter es hätte alleine vertreiben können.
Meine Mutter war stark gewesen, so stark. Nicht viele hätten unter diesen Umständen so lange durchhalten können. Denn trotz allem hatte sie ihr Leben noch so weit im Griff gehabt, dass sie hatte arbeiten können. Uns dieses Zuhause geben können, nicht dem Alkohol oder sonstigen Drogen verfallen war. Nur gekommen war sie nicht.
Meine Gedanken schweiften zu der anderen Dimension, zu der Höhle in der Bücherei, der über all die Jahre hinweg mein Rückzugsort gewesen war. Mein ungewöhnlicher Halt.
Zischend wand sich das Monster über meiner Mutter und streckte die abgetrennten Arme nach ihr aus, doch ich schlug es zurück. Und langsam löste es sich kreischend auf.
Meine Mam war noch lange nicht geheilt, aber jetzt hatte ich die Ketten getrennt, die sie so lange zerstört hatten. Ich hatte ihr die Chance gegeben nach dem Rettungsseil zu greifen, dass ich in den Abgrund geworfen hatte, in den sie gefallen war. Doch hinausklettern musste sie alleine.Wieder sah ich auf das schlafende Gesicht meiner Mutter hinab und strich ich zärtlich eine Strähne aus der Stirn. Ihre verkrampfte Haltung hatte sich gelöst und zum ersten Mal seit Jahren sah sie... friedlich aus.
Ich beugte mich über sie. "Ich liebe dich." flüsterte ich und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Und dann hob ich das zweite Katana, dass ich in der linken Hand hielt. Und ich durchtrennte jegliche Erinnerungen die mit mir zusammen hingen. Ich löschte ihre Erinnerungen an mich, und damit auch von jedem anderen in dieser Stadt.
Niemand würde sich mehr an mich erinnern.
Eine einzelne Träne rann mir die Wange herunter und ich trat einen Schritt zurück.
Es musste so sein. Meine Mutter war nicht gekommen, und so war das hier mein letztes Geschenk an sie. Jetzt hatte sie die Chance glücklich zu werden, und ich würde sie nicht daran hindern. Denn auch wenn ich ihre Vorwürfe und ihren Selbsthass zerstört hatte, so würde sie nicht glücklich werden können, wenn dies durch mein Verschwinden überschatten werden würde. Denn sie liebte mich. Und trotz allem war sie meine Mutter.
Und die ganze Zeit über war ihr Unterbewusstsein für mich da gewesen. Sie hatte mich gehalten und mir Trost gespendet, einen Rückzugsort wenn alles zu viel gewesen war. Sie war die Höhle in der Bücherei. Mama.
"Ich liebe dich." sagte ich ein letztes Mal.
Die Hand auf der Schulter des kleinen Mädchens wanderte zu dessen Hand, und es schaute hoch in Rabbits Gesicht. Und so still wie der fallende Schnee, so still verschwanden auch wir die Straße hinunter. Wir ließen alles hinter uns. Meine Familie, mein Zuhause. Kleine Spuren hinterließen wir im frisch gefallenen Schnee, Spuren die von den nächsten Flocken bereits überdeckt wurden.Und so gingen wir, Rabbit und ich. Wir gingen aus einer Welt die sich nicht mehr an uns erinnerte. Ich hoffte, dass meine Mutter nun endlich glücklich werden würde. Das sie es schaffen würde. Das sie und Joel noch ein langes, glückliches Leben haben würden. Nur leider war ich kein Teil mehr davon. Denn sie war trotz allem nicht gekommen.
Und so gingen wir, als ob wir nie da gewesen wären.
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Dimension 2
ParanormalPia Schröder gibt es nicht mehr, davon sind die Mitglieder des Raven-Clans überzeugt. Seit ihrem Verschwinden aus dem Deutschen Hauptquartier wurde sie nicht mehr gesehen, und weder Familie noch Freunde scheinen sich an das siebzehnjährige Mädchen e...