Der Nachbar

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Seit einer gefühlten Ewigkeit sitzt Emma im kalten und dunklen Treppenhaus und wird von einem Weinkrampf nach dem anderen geschüttelt. Der Herbstregen trommelt unaufhörlich gegen die alten Holzfenster. Irgendwo hat jemand ein Fenster offen gelassen, so dass der Wind von Zeit zu Zeit den Weg ins Treppenhaus findet und laut pfeifend durch die Etagen saust. Die drei Treppenstufen nach oben zur Dachbodentür bieten ihr auch heute wieder den nötigen Schutz. Bereits das zweite Mal in dieser Woche. Die Beine hat sie angewinkelt an ihren Körper gezogen, in der Hoffnung, dass die Kälte sie nicht gleich umhüllt und frieren lässt. Sie ärgert sich darüber, dass sie ihre Jacke vergessen hat. Jetzt muss sie versuchen, die nächsten Stunden ohne wärmendes Kleidungsstück zu überbrücken.

Klack. Das Licht im Treppenhaus wird eingeschaltet. Emma erstarrt augenblicklich zu einer Salzsäule. Wer um alles in der Welt kommt denn jetzt um diese Uhrzeit noch nach Hause? Ein Blick auf ihr Handy zeigt 3:36 Uhr. Quietschende Schritte bahnen sich den Weg nach oben. Emma wiegt sich dennoch in Sicherheit. Außer ihr und Dave wohnt niemand hier oben in der 4. Etage. Dave behauptet steif und fest, dass vor einigen Tagen jemand nur mit ein paar Habseligkeiten in die Nachbarwohnung gezogen sei.
Emma hält das aber nur für eines seiner Hirngespinste. Die möbilierte Nachbarwohnung wird bereits seit einer gefühlten Ewigkeit zu einem überteuerten Preis auf sämtlichen gängigen Immobilienportalen angeboten. Ohne Erfolg.
Die Schritte kommen näher, gerade erreichen sie den letzten Treppenabsatz, bevor es noch oben in die 4.Etage geht.
Bleib stehen! Am liebsten würde es Emma laut hinausschreien. Zu spät. Emma zieht ihre angewinkelten Beine näher an sich ran. Zu gern würde sie sich jetzt in Luft auflösen.
Die quietschenden Schritte erreichen ihre Etage.

"Hallo? Alles okay?"
Sie hört, wie jemand auf sie zukommt.
Durch einen Vorhang aus Haaren und Tränen erkennt sie zwei triefend nasse Lederboots.
Emma wagt sich nicht zu rühren, geschweige denn etwas zu sagen.
"Hallo?"
Die Person hockt sich vor Emma, um einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. Sie schaut in die dunklen Augen eines Mannes, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Seine Haare fallen ihm strähnig und klatschnass ins Gesicht.
Ein freundliches Lächeln umspielt seine Lippen.
"Hey, was tust du denn hier?"
Emma richtet sich auf und zuckt mit den Schultern.
"Wohnst du hier?" der Typ zeigt auf ihre Wohnungstür.
Emma nickt.
"Warum gehst du dann nicht rein?"
Emma schaut ihm jetzt direkt ins Gesicht.
"Weil ich nicht kann." bringt sie flüsternd hervor.
Er runzelt die Stirn. "Schlüssel vergessen?"
Emma schüttelt den Kopf.
"Sollen wir irgendjemanden anrufen? Kann ich dir irgendwie helfen?"

Emma ist das alles furchtbar unangenehm.
"Nein danke, ich komme klar."
Der Typ fixiert sie kurz, bevor er aufsteht, zur Nachbarwohnung geht und den Schlüssel ins Schloss steckt.

Ein neuer Nachbar. Doch kein Hirngespinst von Dave. Emma verfolgt ihn mit scheuen Blicken.
"Na, was ist? Willst du vielleicht mit reinkommen?"
Emma schüttelt energisch den Kopf.
Er geht wieder zwei Schritte auf sie zu. "Keine Angst, ich tu dir nichts. Du weißt doch, im Zweifel ist es immer der Nachbar oder der Gärtner. Man würde mir also viel zu schnell auf die Schliche kommen." Er grinst schelmisch.
Emma lächelt gequält..
"Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du kommst mit zu mir, oder ich setze mich solange mit zu dir, bis du dort nicht mehr sitzen musst."
Warum ist dieser Typ nur so hartnäckig und lässt sie nicht einfach in Ruhe hier sitzen?
Ächzend drückt sie sich von den Treppenstufen ab, um nach oben zu kommen. Sie gerät kurz ins Straucheln und muss sich an der Wand abstützen, bevor sie fest auf beiden Füßen steht.
Er schaut sie kurz besorgt an, bis sein Gesicht schließlich ein strahlendes Lächeln ziert. "Na, geht doch!"
Er deutet ihr, ihm in die Wohnung zu folgen.
"Geh einfach geradeaus durch in die Küche und mache es dir bequem. Ich muss mich erstmal aus meiner Kleidung schälen."
Erst jetzt bemerkt Emma, dass seine Kleidung vom Regen völlig durchnässt ist.

Von Allem Ein BisschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt