Paddy schaut einmal wieder in zwei verweinte Augen als er die Wohnungstür öffnet.
Emma steht wie ein Häufchen Elend vor ihm. Er wundert sich, sie in so einem Zustand zu sehen. War Dave etwa schon wieder zurück? Er weiß nicht warum, aber ihm ist auf einmal danach, Emmas Hände zu nehmen und sie zu sich in die Wohnung zu ziehen.
Ihre eiskalten Finger krallen sich um seine und als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt hält er sie plötzlich im Arm. So fest er kann umklammert er ihren Oberkörper. Emma fängt an laut in sein Jeanshemd zu schluchzen, während ihr Körper immer wieder bebt. Er kann nicht sagen, wie lange sie im kalten und dunklen Flur stehen. Irgendwann wird aus dem tiefen und lauten Schluchzen ein leises Wimmern. Paddy löst leicht die Umarmung und nimmt Emmas Gesicht in beide Hände. Mit seinen Daumen streicht er links und rechts über ihre geröteten Wangen und schaut in ihre verweinten Augen.
In ihrem Blick liegt soviel Verzweiflung und Traurigkeit. Er spürt, dass heute irgendwas anders ist als sonst.
"Ssshhht, es wird alles gut. Lass uns ins Wohnzimmer vor den Ofen gehen. Du bist völlig kalt." Emma nickt stumm und folgt ihm schließlich in sein Wohnzimmer, in dem der alte Kachelofen eine wunderschöne Wärme verbreitet.
"Setz dich, ich bin gleich wieder bei dir."
Noch ehe Emma irgendwas entgegen kann ist Paddy auch schon verschwunden.
Schwerfällig lässt sie sich auf das große Sofa fallen. Ihr Blick fällt auf den Tisch. Dort liegt ein Rosenkranz, daneben eine aufgeschlagene Bibel, deren Buchrücken nach oben zeigt. Überall im Wohnzimmer brennen Kerzen. Erst jetzt registriert Emma, dass im Hintergrund leise Musik läuft, die Emma an gregorianische Gesänge erinnert. Kurze Zeit später ist Paddy mit einer Schüssel Mandarinen, zwei Tassen sowie einer Kanne Tee zurück.
"Ich habe dich gestört, oder?"
Emma deutet vor sich auf den Tisch und bekommt ein schlechtes Gewissen.
Paddy strahlt sie an.
"Nein, alles gut. Gott wartet gern, wenn es dafür wichtige Gründe gibt."
Sie spürt wie plötzlich die Wärme in ihre Wangen zurück kehrt.
Paddy gießt den beiden Tee ein und setzt sich dann zu ihr aufs Sofa.
Emma wischt sich die letzten Tränen vom Gesicht und lehnt sich zurück in die Sofakissen. Sie starrt an die hohe mit Stuck behangene Decke.
"Paddy, ich glaube, ich möchte dir heute erzählen, was mit mir los ist. Der heutige Abend hat mir gezeigt, dass ich nicht länger schweigen kann und will."
Paddy flüstert ein leises "Okay" bevor sie anfängt zu erzählen.
Sie spürt seinen warmen Körper direkt neben sich, traut sich aber nicht ihm in die Augen zu schauen.
Emma erzählt von Daves Unfall und dem heutigen Tag. Von Daves Mutter und ihren Vorwürfen. Die Gedanken schießen wie kleine Blitze durch ihren Kopf und sie versucht alles zu erzählen, ohne auch nur eine Kleinigkeit auszulassen. Sie berichtet von den Demütigungen, die sie ertragen musste. Von Daves regelmäßigem Kontrollverlust über sämtliche Körperfunktionen und nicht zuletzt von den unzähligen Abenden, als der Alkohol ihn aggressiv werden ließ und er sie aus der Wohnung schmiss. Emma spürt, wie die Tränen sich erneut den Weg in ihre Augen bahnen und sie wieder leise zu schluchzen beginnt.
Sie bemerkt wie Paddys Arm sich um ihre Schulter legt.
"Wie geht es jetzt weiter?" fragt er schließlich nach.
Emma zuckt mit den Schultern.
"Er wird nach dem Krankenhaus erstmal zu seinen Eltern ziehen. Seine Mutter glaubt ja, dass ich die Ursache allen Übels bin. Ich denke, er geht dann recht zeitnah in die Entgiftung. Eigentlich bräuchte er auch noch eine stationäre Therapie. So wie ich ihn kenne, wird er wieder denken, dass er alles im Griff hat und er sich selbst therapieren kann. Wäre nicht das erste Mal, dass es so läuft."
Emma seufzt und greift sich eine der Mandarinen. Langsam zieht sie die Schale von der Frucht, während Paddy wieder das Wort an sie richtet.
"Darf ich dich etwas fragen, Emma?"
Sie nickt.
"Warum? Ich meine, warum hast du das alles mitgemacht? Der Typ hat dich gedemütigt, er hat dich gebrochen. Du hast unzählige Tränen wegen ihm vergossen. Warum bist du bei ihm geblieben?"
Emma zuckt mit den Schultern.
"Ganz ehrlich, Paddy? Ich weiß es nicht. Liebe empfinde ich schon lange nicht mehr für ihn. Sagt dir der Begriff Co-Abhängigkeit etwas?"
Paddy greift nun auch nach einer Mandarine, bevor er sie anschaut.
"Nicht so richtig, wenn ich ehrlich bin. Ich habe es schonmal gehört, aber ich kann nicht wirklich etwas damit anfangen."
Emma lehnt sich nach hinten und atmet einmal tief ein, bevor sie anfängt zu berichten.
"Nunja, unter Co-Abhängigkeit versteht man die Situation in der sich vornehmlich Angehörige eines Abhängigen befinden. Dave war, beziehungsweise ist vom Alkohol abhängig, während ich auch ein abhängiges Verhaltensmuster entwickelte, nicht vom Alkohol, aber von der Beziehung zu Dave.
Ich habe mein ganzes Leben nach ihm ausgerichtet, immer darauf bedacht, dass das System am Laufen gehalten wird. Freunde haben sich abgewandt, weil ich nahezu fast mein ganzes Leben dieser Lüge gewidmet habe. Ich habe dafür gesorgt, dass der Schein nach außen gewahrt wird. Habe das komplette Konstrukt für die perfekte Beziehung erstellt. Habe Entschuldigungen gefunden, wenn Dave sich mal wieder halb ins Koma gesoffen hatte und irgendjemand nach ihm fragte, oder sowas wie eine Familienfeier anstand. Ich war wie besessen davon, die Fassade aufrecht zu halten."
Sie dreht sich zu Paddy und schaut ihn an. Seine Augen sind so voller Verständnis.
Emma spürt, wie ihr die Stimme weg bleibt und die Tränen wieder überhand nehmen.
"Ich dachte, ich schaffe das, verstehst du? Ich dachte, ich könnte ihn verändern, ihn aus der Scheiße rausholen, stattdessen habe ich mich selbst verloren."
Stumm kullert die erste Träne über Emmas Wange.
Paddy nimmt sie in den Arm.
"Emma, du wolltest nur das Beste für euch beide, doch diese Scheiß-Krankheit ist stärker gewesen.
Am Anfang war es vielleicht noch eure Liebe an die du geglaubt hast, später die perfekte Illusion davon, aber du hattest keine bösen Absichten."
Emma nickt und spürt, wie ihre Tränen erneut Paddys Hemd befeuchten.
"Ich wusste zwar bis heute nicht, was Co-Abhäbgigkeit bedeutet, aber ich habe mit dieser Krankheit Alkoholabhängigkeit auch schon meine Erfahrungen machen müssen."
Emma schaut auf und guckt ihm direkt in die Augen.
"Wie bitte, Du?"
Paddy nickt.
"Naja, es geht nicht direkt um mich, aber um meinen Vater. Er hatte vorallem nach dem Tod meiner Mutter auch damit zu kämpfen. Meine jüngeren Geschwister hatten damals noch nicht das Bewusstsein dafür, allenfalls habe ich ein paar lose Erinnerungen an diese Zeit. Meine älteren Geschwister hingegen mussten auf einmal dafür sorgen, dass das System Familie bestehen bleibt und wir alle gut versorgt sind, während mein Vater oft tagelang besoffen neben uns im Hotelzimmer lag. Die Großen haben das Geld rangeschafft und sich um uns gekümmert. Es durfte niemand erfahren, was wirklich bei uns ablief. Alle hatten Angst davor, dass man uns als Familie entzweien könnte."
Emma schaut ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
"Oh nein Paddy, das ist ja schlimm."
Er nickt.
"Ja, es war sicher nicht schön. Wie gesagt, ich habe nicht soviele Erinnerungen an die Zeit. Aber ich habe zumindest eine kleine Ahnung davon, wie es dir gehen muss."Er lächelt sie an und Emma gelingt es sogar ein bisschen, sein Lächeln zu erwidern...
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Von Allem Ein Bisschen
FanfictionEmma wohnt mit ihrem Freund in einer wunderschönen Altbauwohnung in der Dresdner Neustadt. Nach außen scheint alles so perfekt. Eines Tages findet der neue Nachbar Emma in Tränen aufgelöst im Treppenhaus und die Fassade droht zu bröckeln...