Emma steht nervös vor Paddys Wohnungstür. Den Schlüssel hält sie fest in ihren Händen. Sie hat keine Ahnung, wie lange sie schon hier steht. Ihrer Körpertemperatur nach zu urteilen schon sehr lange. Sie trägt über ihrem Shirt nur eine dünne Strickjacke. Der Wind pfeift unaufhörlich durchs Treppenhaus und beschert ihr eine Gänsehaut nach der anderen.
Paddy hat seinen Namen immer noch nicht ans Klingelschild angebracht. So langsam zweifelt sie daran, ob er das überhaupt jemals tun wird.
Sie weiß nicht, ob sie es wirklich wagen soll, in seine Wohnung zu gehen. Er war immer bei ihr, wenn sie dort Zuflucht suchte. Jetzt soll sie dort allein sein. Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an, obwohl Paddy sie darum bat, sein Angebot unbedingt anzunehmen.
Zaghaft bringt sie den Schlüssel in ihren Händen in Position, um ihn in das Türschloss zu stecken.
Sie schaut sich nervös um, fast so, als würde sie etwas Verbotenes tun.
Paddy hatte zweimal abgeschlossen.Als sich die Wohnungstür endlich öffnet huscht sie schnell in den dunklen Flur und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Sie lehnt sich von innen gegen diese und atmet einmal tief durch. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals.
Nachdem sich ihr Pulsschlag beruhigt hat, sucht sie mit der Hand die Wand ab, um den Lichtschalter zu finden.
Sie schaltet das Licht ein und bewegt sich leisen Schrittes in Richtung Küche, fast so, als sei sie auf der Hut vor irgendetwas.
Ihr Blick bleibt zunächst an dem großen Spiegel hängen der genau Vis-à-Vis zur Eingangstür am anderen Ende des Flures hängt.
Dort ist sie in voller Größe zu sehen. Neben einem schlichten Longsleeve und der Strickjacke trägt sie heute eine enge Jeans. Der Stoff schmiegt sich hauteng an ihren Körper und lässt nichts von ihren Proportionen im Verborgenen.
Sie ist, wie alle Frauen in ihrer Familie, mit einem breiten Becken und einer üppigen Oberweite ausgestattet. Ihre Taille hingegen ist ganz schmal.
Dave zieht sie oft damit auf, dass sie aussehen würde, wie eine Sanduhr. Er sagt ihr dann, dass er sie wesentlich attraktiver fand, als sie noch schlanker war.
Emmas Gewicht ist allerdings seit ihrem 18 Lebensjahr unverändert. Höchstens mal Schwankungen von ein bis zwei Kilo, wenn sich die monatlichen Frauentage ankündigen. Obwohl es kaum sein kann, dass sich ihre Figur stark verändert hat, seitdem sie und Dave zusammen sind, schafft er es immer wieder aufs Neue, sie zu verunsichern.
Dann gibt es wieder Tage und Wochen an denen sie ihren Körper verabscheut tagein tagaus in Salat rumstochert und irgendwelche Shakes trinkt. Der kurzzeitige Gewichtsverlust bewirkt maximal, dass ihr Gesicht eingefallen wirkt, an ihrem Proportionen ändert sich jedoch nie etwas. Viele würden sagen, dass Emmas Figur weiblich ist, Dave hingegen bezeichnet sie als moppelig.
Es gibt Tage, an denen sie sich wohl in ihrer Haut fühlt, doch dann kommt sie wieder an den Punkt, wo Daves Worte wie wild in ihrem Kopf umherschwirren und von innen gegen ihre Schläfen hämmern. Sie schämt sich dann für ihre Zügellosigkeit und mangelnde Disziplin, obwohl sie eigentlich weiß, dass das absoluter Quatsch ist.
Daves eigene Unzufriedenheit hat dazu geführt, dass er sie innerlich gebrochen hat. Sie ist sich dessen bewusst, dennoch bilden beide eine Einheit, die schon lange nicht mehr von Liebe, sondern viel mehr von Lügen und einem großen Versteckspiel geprägt ist.Emma wendet sich von ihrem Spiegelbild ab und tritt in Paddys große Küche mit dem grünen Sofa... Ihre rettende Insel.
Jetzt wo Paddy nicht da ist, wirkt dieser Raum so kühl und weniger wohnlich.
Er schafft es allein durch seine Anwesenheit Wärme und Behaglichkeit zu verbreiten. Emmas Blick wandert auf den großen Tisch, dort liegt ein Zettel mit einem handgeschriebenen Text. Als sie näher herantritt, erkennt sie ihren Namen. Emma nimmt das Stück Papier in die Hand und lässt ihren Blick über die geschwungenen Buchstaben schweifen.Liebe Emma,
ich freue mich, dass du meinem Angebot gefolgt bist.
Fühle dich wie Zuhause. Den Schrank mit dem Tee kennst du ja bereits und im Tiefkühlfach findest du eine große Auswahl an Pizzen.
Solltest du hier schlafen wollen, empfehle ich dir das Sofa im Wohnzimmer. Dort liegt eine warme Decke und ist zudem der Kachelofen, der für eine schöne Wärme sorgt.
Ich hoffe, du musst in meiner Abwesenheit nicht zu oft hierher kommen. Du sollst aber dennoch wissen, dass du zu jeder Zeit herzlich willkommen bist.
xxx PaddyEmma lässt sich auf das große Sofa fallen und lauscht der unheimlichen Stille.
Nach einer ganzen Weile steht sie auf und geht durch den Flur ins dunkle Wohnzimmer. Die Straßenlaternen von unten spenden ein wenig Licht, Emma kann jedoch nur schemenhaft erkennen, was sich darin befindet.
Als sie den Lichtschalter betätigt und der Raum erhellt wird, fällt Emmas Blick zuerst auf eine kleine Kommode neben dem Fernsehschrank. Dort liegen ein kleines Kruzifix aus Holz sowie ein Dornenkranz aus Metall. In der Mitte zwischen diesen beiden Dingen liegt ein aufgeschlagenes Buch .
Als Emma herantritt erkennt sie, dass es sich hierbei um eine Bibel handelt.
Mit einem roten Stift hat jemand ein paar Worte unterstrichen:Denn ich bin ganz sicher:
Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch irgendwelche Gewalten, weder Hohes noch Tiefes oder sonst irgendetwas auf der Welt können uns von der Liebe Gottes trennen, die er uns in Jesus Christus, unserem Herrn, schenkt.Emmas Augen wandern wieder und wieder über die Zeilen, während sie den Text leise vorliest.
Alles hätte sie hier erwartet, aber nicht das. Dieser Mann steckt voller Geheimnisse. Zu gern würde sie mehr über diesen Menschen erfahren. Sie befürchtet jedoch, dass er kaum etwas von sich preisgeben würde, solange sie ihr Geheimnis auch noch für sich behält.Emma bestückt den Kachelofen mit ein paar Kohlen und entzündet das Feuer, bevor sie sich auf das große Cordsofa setzt.
Sie muss zugeben, dass dieses Sofa wesentlich bequemer ist, als das alte grüne in der Küche, welches sie bereits so lieb gewonnen hatte.
Sie schnappt sich die grob gestrickte Decke, kuschelt sich in die großen Kissen und schaltet den Fernseher ein.
Heute ist Freitag und das Fernsehprogramm sehr ausbaufähig.
Emma zappt sich durch die Sender, bis sie schließlich auf einem der dritten Programme hängen bleibt.
Dort beginnt gerade eine der obligatorischen Freitagabend-Talkshows.
Der Moderator ist gerade dabei die einzelnen Talkgäste vorzustellen, als Emma plötzlich fast das Herz stehen bleibt.
Vor ihr auf dem Bildschirm erscheint Paddy und lächelt in die Kamera, während der Moderator berichtet, was sie heute von Paddy erwarten können."Noch vor wenigen Monaten lebte Michael Patrick Kelly als Mönch in einem Kloster. Inzwischen versucht er wieder seinen Platz in dieser Welt zu finden. Was Dresden und eine Künstlerkommune damit zu tun haben, erfahren wir heute Abend."
Obwohl Emma sitzt, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Die Wahrheit fängt so langsam an, wie Schuppen von ihren Augen zu fallen...MICHAEL PATRICK KELLY
Paddy war niemand Geringeres als ein Mitglied der berühmten Kelly Family.
Während sie in den 90er Jahren lieber im Wendland gegen Castortransporte demonstrierte, war nahezu ihre halbe Klasse in ihn verliebt und sammelte jeden Schnipsel aus der Bravo und sämtlichen anderen Jugendzeitschriften.Emma hingegen interessierte das alles nicht. Sie engagierte sich damals lieber als Freizeitaktivistin und sang mit ihren Freunden alte Hippielieder am Lagerfeuer.
Jetzt starrte sie auf den Bildschirm und klebte an Paddys Lippen, um zu erfahren, was er die letzten Jahre getrieben hat...
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Von Allem Ein Bisschen
FanfictionEmma wohnt mit ihrem Freund in einer wunderschönen Altbauwohnung in der Dresdner Neustadt. Nach außen scheint alles so perfekt. Eines Tages findet der neue Nachbar Emma in Tränen aufgelöst im Treppenhaus und die Fassade droht zu bröckeln...