Kapitel 36

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„Nein, ich bin nicht mit Avery Grace Miller verwandt. Wie oft denn noch?"

Genervt strich ich mir eine Locke aus meinem Gesicht, während mich ein paar junge Mädchen von oben bis unten beäugten. Danach suchten sie kichernd nach etwas weiter. Oder nach jemanden Bestimmten.
Woher wussten die alle nur so schnell, dass Niall Horan hier war? Irritiert betrachtete ich, wie sie vergeblich an Niall vorbei rannten.

Danach stützte ich mich an der Rezeption ab, da mir das viele Stehen langsam zu viel wurde. Ein Schwindelgefühl meldete sich an, und ich wusste, dass das ein Zeichen dafür war, dass ich mich gerade übernahm.

„Dann sehe ich auch keinen Grund, Sie in die Intensivstation herein zu lassen.", meinte der ältere Mann am Schalter kopfschüttelnd und wendete sich den anderen Menschen hinter mir zu.

Wütend drehte ich mich um, um mich dann auf einen der Stühle im Wartebereich zu setzen. Schweratmend stützte ich meine Arme auf meinen Knien ab und beugte meinen Kopf zwischen meine Arme.

Ich konnte es nicht fassen. Einerseits, dass ich hier nun wirklich nicht zu Avery konnte und andererseits, wie schlecht konditioniert ich inzwischen war. Ich konnte keine Viertelstunde stehen, ohne, dass mir nicht schwindelig wurde oder mir Übelkeit hoch stieß.
Müde ließ ich meinen Kopf gegen Nialls Schulter sinken, der schon wieder ein gedöst war. Sein Gesicht hatte er tief in einer Kapuze mit einer Kappe versucht zu verstecken. Er zuckte zusammen, wirbelte wild umher, nur um zu sehen, dass ich es war und dann mit seiner Hand durch meine Haare zu streichen. Seufzend lehnte ich mich der kleinen, aber doch zärtlichen Geste zusammen.

„Immer noch kein Erfolg?", murmelte er mir besorgt zu. Erschöpft schüttelte ich meinen Kopf.

„Dann machen wir das jetzt auf meine Art." Mit aufgerissen Augen starrte ich Niall an, der sich meine Tasche und meine Hand schnappte, um mich dann zu den Aufzügen zu ziehen.

„Niall!", zischte ich, als er mich schnell in einen leeren Aufzog rein zog. Ich presste ihn an die Wand, um ihn böse anzustarren.

„Was soll das werden, wenn es fertig ist?", fragte ich ihn, doch nachdem er meinem Gesicht immer näher kam, und seine Hände an meine Handgelenke legte, war es schwierig, weiterhin meinen bösen Blick beizubehalten. Ich bereute sofort, ihn an die Wand gepresst zu haben, denn nun drehte er uns in Blitzgeschwindigkeit um, so dass ich diejenige wahr, die zwischen ihm und der Wand gefangen war.

„Hab ein bisschen Vertrauen in mich.", murmelte er gegen meinen Hals, während ich versuchte meine Handgelenke von seinen zu lösen.

„Ich würde nie an dir zweifeln.", sagte ich wahrheitsgemäß, was mir einen irritierten Blick ein kassierte. Lachend ließ ich es, mich zu wehren und legte meine Hände um seinen Nacken. „Aber hier vertraue ich dir nun mal doch nicht.", lachte ich und küsste ihn daraufhin. Ich erstickte damit ein empörendes „Hey!" und ließ es untergehen, indem ich meine Zunge über seine Unterlippe gleiten ließ. Niall ließ dies sofort zu und gestattete mir Einlass. Spielerisch lieferten wir uns einen Kampf, während Niall seine Hände von meinen Handgelenken löste. Stattdessen machten sich diese auf den Weg von meinem Rücken zu meinem Po. Als er an diesem angelangt war, konnte ich ein Stöhnen nicht unterdrücken. Ich merkte, wie Niall in den Kuss hinein grinste und daraufhin bekam der Kuss eine gewisse Schärfe, die ich so noch nicht von ihm kannte.
Auf der Insel wäre ich niemals auf die Idee gekommen, an so etwas zu denken, aber hier zu Hause sah das nun alles etwas anders aus.

Ein Ton, dass wir auf dem Stockwerk der Station angekommen waren, ließ uns wieder schwer atmend lösen. Lachend legte Niall seine Stirn an meine.

„Das sollten wir dringend fortsetzten.", murmelte er gierig, während seine nun dunklen Augen mich musterten. Mit roten Wangen lächelte ich, bevor er mich auf die Stirn nochmal küsste und wir dann aus dem Aufzug heraus traten. Ich kruschte in meiner Tasche nach dem Handy herum, um dann Phoebe anzurufen. Keine zehn Minuten später befanden wir uns mit einer aufgebrachten und gleich zu erschöpften Mutter von Avery auf dem Weg zu ihrem Zimmer.

„Und die haben dich einfach ab gewiesen? So eine Frechheit! Dabei hatte ich Bescheid gegeben.", regte sie sich auf, nachdem sie mich kurz umarmt hatte. „Hallo, Niall.", grüßte sie mitten drinnen, was mich kurz schmunzeln ließ.

Die Realität holte mich jedoch wieder schnell ein, als wir vor einer großen Tür anhielten. Phoebe schluckte.

„Ich muss mich weiter mit Hector und den Ärzten unterhalten. Geht ruhig rein.", sagte Phoebe mit einem traurigen Lächeln, bevor sie zu Averys Vater Hector weiter ging, der mir kurz winkte.

Avery bezweifelte es immer wieder, aber ihre Eltern liebten sie und waren für sie da. Sie würde immer auf sie zählen können, das wusste ich. Vielleicht zeigten sie es ihr nicht so, wie sie es sich wünschte, aber sie waren definitiv da für sie.

Ich starrte kurz die Tür an, als ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte. Niall musste nichts sagen, denn ich wusste, dass er mit damit symbolisierte, bei mir zu sein. Ich holte tief Luft, als ich die Türe aufstieß.
Das mir allzu verhasste, stetige Piepen der ganzen Gerätschaften, die an Avery angeschlossen waren, waren als Erstes zu hören.
Das Zimmer ähnelte sehr stark dem Vorherigen, wenn nicht, sogar noch größer. Mein Herz klopfte so laut, dass ich befürchtete, dass es Niall sogar hörte. Ich vernahm neben dem Piepen noch ein weiteres Geräusch, was hier nicht hin passte. Es war ein Summen.

„Haz.", flüsterte Niall meine Gedanken aus und indem Moment schreckte Angesprochener zusammen und flog somit fast vom Stuhl. Niall prustete los und selbst ich versuchte mir ein Grinsen zu verkneifen. Deswegen wimmelte es also schon von Fotografen und Fans hier. Harry war die ganze Zeit hier gewesen.

„Man. Ihr habt mich vielleicht erschreckt.", murmelte er, während er sich an seine Brust fasste. Er strich sich das lange Haare aus dem Gesicht und schenkte uns daraufhin ein müdes Lächeln. „Hey."

Niall schlug bei ihm ein, nur ihm kurz darauf in eine lange Umarmung zu ziehen. Ausgepowert ließ Harry seinen Kopf auf Nialls Schulter sinken. Sofort sah ich weg und gab dem den beiden etwas Privatsphäre. Stattdessen sah ich zu Avery. Die gebürtige Engländerin sah schrecklich aus. Aus ihren langen blonden Haaren wuchs ihre Naturhaarfarbe raus. In ihr blasses, ausgemagertes Gesicht fiel ihr sprödes Haar. Ein Schlauch, der in ihren Mund hinein geführt wurde passte auch nicht wirklich ins Bild.

„Avery.", keuchte ich auf und mir wurde wieder schlecht bei dem Anblick. Die letzten Wochen hatte ich sie jeden Tag gesehen, doch es war jedes Mal aufs Neue ein harter Schlag. Ich merkte, wie meine Augen glasig wurden, und sich ein großer Klos in meinem Hals bildete.

„Hope?", fragte Niall behutsam, doch ich schüttelte nur den Kopf und räusperte mich. „Gibt es irgendwas Neues, Harry?"

„Nein. Nur, dass die Not-OP der Auslöser des Komas war. Ihr Körper scheint sich nicht wieder wirklich an ihren regulären Zustand zu gewöhnen und die Narkose war nicht für ihre Dosis bestimmt und ..." Er brach ab und sah zum Fenster hinaus.
Dabei schlang er seinen dünnen Arme um seinen mageren Körper.

Nun war ich es, die sich zu Harry gesellte. Selbst hier, zurück in London, merkte ich immer noch, wie stark dieses Band war, was sich zwischen uns allen gebildet hatte, während wir auf der Insel waren. Harry sah auf mich herab, um mich mit einem leeren Blick zu mustern. „Sie schafft es doch, oder?"

Schweigend starrte ich ihn an, ohne auf seine Frage einzugehen. „Sie darf nicht ... sie kann nicht ..."
Stockend holte er zittrig Luft. „Ich habe sie doch gerade erst bekommen.", war das Einzige, was er dann noch heraus brachte.

Ich konnte nicht anders und schlang meine Arme um ihn und versuchte ihm irgendwie sein Leid zu nehmen, indem ich ihn fest drückte. Am Anfang etwas zögerlich erwiderte er meine Umarmung, bis er irgendwann seinen Kopf hinunter auf meine Schulter sinken ließ. Ich merkte, dass er still vor sich hin weinte.

„Ich weiß es nicht, Harry. Ich weiß gar nichts." nuschelte ich an seinen Brustkorb. Leicht drehte ich meinen Kopf, um meinen Blick auf Avery zu richten. Ein Leben ohne sie konnte ich mir nicht ausmalen. Ich wollte es mir nicht einmal ausmalen.

Irgendwann lösten wir uns und saßen einfach nur da, ohne dass irgendjemand ein Wort sprach. Einzig und allein die Geräte, die Avery am Leben erhielten, waren zu hören.

Niall räusperte sich als Erstes. „Wie wäre es mit frischer Luft?" Ihm war anzusehen, dass er sich langsam unwohl fühlte.
Er wurde unruhig und seine Augen huschten hin und her. In solchen Momenten war mir auch wieder klar, warum wir leider doch noch alle eine dringende Therapie nötig hatten und diese auch aktiv besuchten.
Avery hatte sich stets über ihren Besuch bei ihrer Therapeutin beschwert, wobei ich ganz genau wusste, wie sehr sie ihre Therapeutin eigentlich mochte, doch nun konnte ich etwas nachvollziehen. Es war wirklich nicht oft einfach über das Vergangene zu sprechen, wenn man eigentlich nichts lieber will, als damit abzuschließen.

„In Ordnung, Niall." Ich nahm seine Hand und strich mit meinem Daumen über seinen Handrücken. Er schien sich zu beruhigen, doch er sah mir nicht in die Augen. Während er schon aufstand und den Raum verließ, blieb ich bei Harry stehen.

„Komm schon, Harry. Wann warst du zuletzt bei deiner Familie?" Seufzend legte ich eine Hand auf seine Schulter. Ich war einerseits beeindruckt, andrerseits machte ich mir große Sorgen. Wie konnte ein Harry, der Avery doch noch gar nicht so lange kannte, von ihr nur so abhängig sein?

„Ich kann sie aber nicht alleine lassen. Was ist, wenn sie aufwacht? Und ich nicht hier bin? Sie würde mir das nie verzeihen.", murmelte er kopfschüttelnd.

„Haz, ich denke, sie würde es verstehen, wenn du auch mal bei deiner Familie bist und etwas Sauerstoff wieder zu dir nimmst."
Niall, der wieder zurück gekommen war, kniete sich vor Harry hin und sah ihm dabei tief in die Augen, während Harry unglücklich den Kopf nach unten hängen ließ. „Nicht?"

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