Kapitel 37

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„Ciao, Haz.", rief Niall noch einmal aus dem Fenster, um sich anschließend wieder in den Verkehr von London einzufädeln.
Schweigend drehte ich mich zu Harry um, der in seiner Hosentasche nach seinem Schlüssel suchte und mit niedergelassenen Schultern zur Tür trottete. Ein paar Fotografen wimmerten dort, doch es sah so aus, als ob er die nicht einmal wahrnahm.

„Ich mache mir wirklich Sorgen, Niall." Ich wendete meinen Blick von Harry ab, um meine Augen auf Niall zu richten, der ebenfalls etwas betrübt in seinen Innenspiegel gesehen hatte. „Diese bescheuerten Fotografen.", murmelte er leise.

„Ich weiß. Aber was können wir tun? Er ist nicht der Einzige, der leidet. Jeder hat mit den Folgen dieses Absturzes zu leiden, Avery ist auch deine beste Freundin. Aber keine Sorge. Ich werde ihn nicht allein lassen. Das Werden wir alle nicht. Harry ist unser Freund, unser Bruder.", erklärte er mir und ich sah ihn bewundernd an. Er war mein Held.

Niall bemerkte wohl meinen anhimmelnden Blick, grinste schüchtern und legte seine Hand daraufhin auf mein Knie. Ich legte meine Hand auf seine und verschränkte sie daraufhin.
„Lass uns zu mir gehen und nichts tun, ja?", schlug Niall vor, während er die Richtung seines Appartements in London einschlug. Ich überlegte kurz. So vieles schwirrte mir gerade durch den Kopf. Möglicherweise brauchte ich das.

Avery P.O.V.
„Avery?" Harry nuschelte, so dass ich ihn kaum verstehen konnte. Er hörte sich müde und erschöpft an.

Mein Kopf dröhnte und mir war warm und kalt zugleich. Übelkeit stieg in mir hoch, dabei hatte ich so einen Hunger und Durst.
Ich gab mir einen Ruck.

„Ja?", wisperte ich vorsichtig, vor lauter Angst, dass ich das Wort nicht hinaus bekommen würde. Harrys Mundwinkel stiegen ein Stück in die Höhe und er strich mir sanft meine Wange entlang.

„Hallo, Kleines. Du bist wach. Ich nehme dich jetzt hoch, okay? Wir müssen aus der Höhle raus." Verwirrt sah ich ihn an, als er seine Hände unter meine Kniekehlen und meinen Rücken legte. Kurz sah er mich fragend an und mit einem Nicken erlaubte ihm die Geste.
Es lag vielleicht daran, dass ich krank war, aber selten habe ich von jemanden so die Nähe begehrt, wie von ihm. Es war verrückt. Er dürfte mich vermutlich jederzeit anfassen und es würde mir nichts ausmachen.

Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass nichts und niemand dieses Gefühl jemals stoppen könnte. Es tat einfach zu gut. Zudem war Harry mein menschliches Wärmekissen geworden, seitdem es mir so schlecht ging und ich war fast schon schlecht gelaunt, wenn er kurz weg war.

Vorsichtig hievte mich Harry zu den anderen Anwesenden, während er leise auf mich einredete.

Hatte ich was verpasst? Statt mir zu erklären, was los war, fiel Harry jedoch in ein Gespräch mit Louis und Zayn.
Hope betrachtete mich kurz besorgt, bevor sie ihren Blick wieder zu den anderen richtete. Sie sah dünn und schwach aus.
Ihr Gesicht war eingefallen und ihre Wangenknochen stachen hervor. Um ihre Augen hat sich schwarze, wenn nicht blaue Ringe entwickelt, was alles andere als gesund aussah. Ein paar Kratzer, verheilte Wunden und bläuliche Flecken verzierten ebenso ihren gesamten Körper. Allgemein sahen hier alle wirklich nicht mehr gesund aus. Und zudem auch etwas angespannt. Ich wendete meinen Blick ab, da sich ein Rauschen bei mir anmeldete und mir übel wurde.
Zu viel Denken war nicht gut, es verlangte mir zu viel Kraft ab.

„Würde es jetzt aber wirklich etwas bringen, weiter in die Höhle zu verschwinden, oder sollen wir uns denen stellen?", murmelte Liam müde und unterdrückte ein Gähnen.

Wem stellen? Ich wollte fragen, was los ist, aber ich merkte, dass ich dazu definitiv nicht in der Lage war. Alles wurde langsam wieder leiser und ich merkte, dass ich nicht mehr lange wach sein würde.

„Denen stellen? Bist du lebensmüde? Siehst du denn eigentlich nicht, dass wir kaum in der Lage sind zu stehen?", zischte Harry und ich konnte wortwörtlich spüren, wie sein Herz schneller pochte. Ich riss meine Augen bei dem wütenden Klang seiner Stimme auf und versuchte seine Hand zu nehmen. Es gelang mir und ich strich darüber, in der Hoffnung, dass er sich beruhigen würde. Es funktionierte. Seine Augen richteten sich augenblicklich auf mich.

„Alles in Ordnung?" Sofort erschien die Sorgenfalte, die ich ihm am liebsten aus seinem Gesicht streichen würde.
Ich bezweifelte jedoch, dass ich so hochkommen würde. Stattdessen nickte ich einfach nur und umklammerte seine Hand.

„Aber was machen wir denn dann?", zischte Liam ebenfalls zurück und er ballte seine Fäuste zusammen.

„Liam, du musst dich beruhigen.", versuchte ihn Niall zu besänftigen, während sich die anderen immer wieder hektisch umsahen.

Was sie danach sagten, verstand ich nicht mehr. Ich war damit beschäftigt gewesen, meine Augen wieder zu schließen und meinen Kopf an Harrys warmer Brust niederzulassen und seinem stetigen Herzschlag zuzuhören.

Erst als dieser sich ruckartig mit mir in Bewegung setzte, wurde ich unfreiwillig wieder wach. Die frische Luft draußen ließ mich noch mehr frösteln, wobei ich ein Wimmern nicht unterdrücken konnte. Und die Tatsache, dass wir uns so schnell bewegten, machte es nicht besser. Gute zehn Minuten hielt ich das Theater durch. Dann war alles zu viel. Übelkeit überkam mich und ich krallte mich mit letzter Kraft in Harrys Brust. Dieser stoppte sofort, atmete laut und kniete sich dann hin.

„Gott! Ich bekomme kaum Luft mehr.", presste er hervor und fasste sich ebenfalls an die Brust. Mitleidig sah ich ihn an, als ein Lichtschein auf uns fiel. Wir beide zuckten zusammen und Harry lugte über seine Schulter.

„Ich schaff das nicht, Avery. Es tut mir leid, aber ... alles schmerzt so sehr."
Am Ende seiner Kräfte ließ er sich von seinen Knien in einen Schneidersitz gleiten. Er legte seinen Arm um meine Hüfte, so dass ich etwas aufrechter sitzen konnte. Die Luft sorgte dafür, dass ich nun komplett aufgewacht war. Vorsichtig legte ich meine Hände um seinen Nacken. Nun war ich es, die eine Sorgenfalte bekam. Ihm war anzusehen, dass er Schmerzen hatte. Vorsichtig glitt ich dann mit meinen Fingerspitzen an seiner Wange hinauf.

„Harry?" Keine Reaktion. „Harry.", versuchte ich es nochmal lauter. Seufzend sah er auf, seine Augen schimmerten etwas.
Ich wusste, dass es ihm nicht gut ging. Natürlich ging es ihm nicht gut! Er wollte nach Hause, so wie wir alle. Er wollte seine
Familie sehen, wieder das tun, was er vorher gemacht hat. Er hatte Angst.
All das wusste ich, weil er es mir die letzten Tage einfach anvertraut hatte.

Kurz atmete ich tief ein und aus, zumindest so gut wie es eben meine Atemwege zu ließen. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dass ich warten würde, bis es mir besser geht. Bis ich Harry besser kenne. Bis ich weiß, dass wir hier alle gesund und lebend von dieser verfluchten Insel runterkämen
Ich meine, er hatte mir die letzten Tage so viel von sich erzählt, nur um mich irgendwie wachzuhalten. Aber ich wollte noch so viel mehr von ihm. Ich wollte auch, dass er mich kennen lernte.

Doch jetzt glaubte ich, dass es keinen besseren Zeitpunkt geben würde.

„Ich liebe dich." Ich versuchte es so deutlich auszusprechen, wie es mir möglich war, ohne es zu nuscheln, was sich wirklich als schwierig herausstellte. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt so viel geredet hatte.

"Du ... du, was?" Er stockte und seine großen Hände, die mich an der Taille hielten, packten mich etwas fester. Kurz wirkte ich verunsichert. War es doch zu früh gewesen? Hatte ich nicht aus meinen Fehlern gelernt?

Ich meine, ja wir kannten uns jetzt bestimmt mindestens zwei Monate, und die erste Zeit konnte ich ihn kein Stück leiden.
Zumindest dachte ich das. Aber zwischen uns ist eine Menge passiert und ich dachte, dass man das vertiefen könnte. Oder?

Harry schien mein Behagen zu bemerken, denn er schüttelte lachend seinen Kopf. Im nächsten Moment tat er das, was er seit dieser einen Nacht nicht mehr getan hatte. Er legte seine Lippen auf meine. Ein Rauschen durchfuhr mich.

„Avery, ich liebe dich.", nuschelte er gegen meine Lippen und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen.

Er hatte es auch gesagt, er empfand das Gleiche, wie ich es für ihn tat. Ich konnte das Zittern nicht unterdrücken, was sich anmeldete. Ich wusste nicht, ob es vor lauter Glück war oder mein Körper mit den Berührungen nicht klarkam, aber ich wollte es gerade genauso und nicht anders. Harry entfernte sich von mir, als er das Zittern bemerkte.

„Tut mir leid.", hauchte er und wollte sich weiter von mir entfernen, doch bevor er dazu kam, drückte ich meine Lippen auf seine. Zögernd erwiderte er den Kuss.

„Nicht, bleib.", brachte ich nur heraus, als wir kurz Luft holten. Ich legte meine Stirn an seine, denn mir fing an, schwindelig zu werden.

„Ich muss dir noch so viel erzählen, Haz. Es gibt so vieles, was du noch nicht von mir kennst und du unbedingt wissen musst, damit du verstehst, warum ich heute dieser Mensch bin.", versuchte ich ihm zur erklären und ein sanftes Lächeln breitete sich auf Harrys rosanen Lippen aus. Mit jedem Wort, was ich sprach, fühlte ich mich stärker in meinem Selbstvertrauen.
Ich wusste, dass ich ihm alles erzählen könnte. Und er trotzdem da sein würde.
„Es wird mir eine Ehre sein, Avery." Tief atmete ich aus.

Im nächsten Atemzug klappten meine Augen zu, ohne, dass ich das wollte und in der nächsten Sekunde, lag mein Kopf schlaff auf Harrys Schulter.
Und in der letzten Sekunde hörte ich Harrys verzweifelte Rufe und seine Hände, die an mir rüttelten.

„Avery? Wach auf!"


Und seitdem bekomme ich diese Augen nicht mehr auf.

Unverhofft kommt oftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt