Ostern und Weihnachten auf einen Tag °🎲° Mo. 23.11.2020

106 18 15
                                    

Fröstelnd ziehe ich meinen löchrigen Schal ein bisschen fester um meinen Hals. Zwecklos. Dann ziehts einfach wo anders rein ... Wie immer werfe ich auf dem Weg zu unserem Unterschlupf einen Blick auf das Gelände der Gärtnerei. Wenn die nämlich anfangen, die Blumenkübel reinzuholen, dann ist der erste Nachtfrost angesagt.
Bingo! Wir haben den Sechser im Lotto – nicht.
Kein einziger müder Topf steht noch draußen. Ich habe keine Ahnung, wie ich den Kleinen und mich durch den Winter kriegen soll, wenn es jetzt schon so kalt wird.

Wir „wohnen" in einem alten Transporter im Innenhof einer Bauruine, haben für Strom eine ziemlich zerbröselte Außensteckdose angezapft, damit wir unseren altersschwachen Heizstrahler und mein uraltes Tastenhandy aufladen können, und essen kalt, was ich im Laufe des Tages so erbetteln oder in Mülleimern finden kann. Es ist ja nicht so, dass ich nicht arbeiten will. Aber als wir aus dem Heim abgehauen sind, musste ich die Schule abbrechen, und dann wirds schwer mit 'ner Ausbildung. Ab und zu hatte ich Jobs. Aber ich will, dass der Kleine zur Schule geht, also brauchen wir immer eine ordentliche Schuluniform für ihn, müssen dauernd umziehen, damit man uns nicht auf die Schliche kommt, ich muss dauernd lügen und Unterschriften fälschen und improvisieren – und ich hasse das alles so abgrundtief!

Und wenn ich beim Arbeitsamt nach Jobs frage oder durch Kneipen ziehe, dann scheitere ich immer an dem selben Problem. Ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Krankenkasse. Ohne Gesundheit und ein ordentliches Auftreten kein Vertrauen, ohne Abschluss kein nennenswerter Verdienst. Ohne Verdienst keine ordentlichen Klamotten. Und so weiter ...

Ich laufe durch die brave, gutbürgerliche Wohnstraße Richtung Stadtrand. Und scheine heute einen Engel zur Seite zu haben. Morgen ist wohl Altkleidersammlung. Vor mehreren Toreinfahrten stehen bereits die gut verschnürten und beschrifteten Sammelsäcke, prall gefüllt mit Dingen, die wir uns niemals leisten könnten. Ich versuche im Vorbeigehen im Licht der Straßenlaternen zu erkennen, was in den Säcken drin sein könnte. Schnelle Blicke auf mein fast leeres Handy und die hell erleuchteten Fenster der Häuser sagen mir, dass es noch zu früh ist, um sich hier zu bedienen.

Als ich den Hof zwischen den leerstehenden, vernagelten Ruinen betrete, sehe ich den Lichtschein vorne im Auto und weiß, dass der Kleine schon da ist. Wahrscheinlich versucht er grade, mit klammen Fingern in dem Funzellicht einer altersschwachen Stirnlampe seine Hausaufgaben zu machen. Er tut mir wahnsinnig leid. Er kann tausendmal mein Bruder sein. Aber ich hätte ihn nicht mitnehmen dürfen.
Ich hätte gar nicht abhauen sollen ...

Ich krieche zu ihm auf die Autorückbank, die wir uns als Bett hinten reingestellt haben, und nehme ihn fest in den Arm. Er hat blaue Lippen und zittert, aber er hat ein Buch auf dem Schoß und liest.
„Ich hab heute was Gutes zu essen. Hier."
Ich ziehe die drei Bananen und die zwei liegen gelassenen belegten Sandwiches aus meinen Jackentaschen und lege ihm alles in den Schoß. Seine traurigen Augen werden groß wie Wagenräder.
„Wo hast du das alles her, Jimin? Mir sagst du immer, dass ich nicht klauen soll!"
„Das ist nicht geklaut, Minseokie. Ein Obsthändler wollte die wegwerfen. Ich hab mich getraut zu fragen, da hat er sie mir geschenkt. Und die beiden Sandwiches lagen auf einer Parkbank. Erst, als es anfing zu regnen, hab ich sie genommen, denn fünf Minuten später wären sie eh Matsch gewesen. Iss, dann frierst du auch nicht mehr so."

Das lässt sich Seokie nicht zweimal sagen. Ich wickele unsere einzige Decke um unsere Beine und greife mir eine Banane. Den Rest überlasse ich ihm. Kaum ist die letzte Banane in ihm verschwunden, wird es schwer an meiner Schulter. Ich packe seine Schulsachen in seinen Rucksackranzen, stöpsele den Heizstrahler ab und mein Handy an, lege mich mit ihm im Arm auf die Rückbank und versuche, uns irgendwie mit der Decke beide zuzudecken. Das einzig Warme sind eigentlich wir, und das müssen wir nutzen.

Ich schaffe es, wach zu bleiben, bis mein Handy mir sagt, dass es auf Mitternacht zugeht. Vorsichtig lege ich den Kleinen neben mich und decke ihn wieder zu. Ich beeile mich, aus dem Auto zu kommen, damit nicht so viel von dem bisschen Wärme verloren geht. Dann schleiche ich mich aus dem Hof.
Hoffentlich kann ich gute Beute machen!

Mensch, ärgere dich nicht - Adventskalender 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt