Krankenwache °✨° Mi. 16.12.2020

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So richtig viel krieg ich ja nicht gebacken vor lauter Müdigkeit. Ich bin auch viel zu aufgewühlt. Aber ich bin wenigstens telefonisch erreichbar und kann vom PC aus zuarbeiten. Der Arzt ist wunderbar. Ich durfte mich einfach zu Minnie ins Bett legen und ihn im Arm halten, damit er ruhig bleibt. Minnie kriegt ja gar nichts mit um ihn herum. Aber dass er alleine wäre – das würde er merken. Er bekommt wieder genug Luft, er wird mit Nährstoffen vollgepumpt, er ist nicht alleine. Und er wird sich nie wieder verstecken müssen.

Woosung hat nicht lange gezaudert, als ich ihn heute Morgen angerufen habe. Ich musste nur sagen, dass ich unwissentlich schon vor ein paar Wochen die beiden gesuchten Jungen gefunden habe, dass sie mir vertrauen und dass ich jetzt gerne bei ihnen bleiben will, weil der Kleine so krank ist. Er hat sofort jemand mit meinem PC und ein paar Akten losgeschickt und mir gesagt, dass er mich erst wieder sehen will, wenn die Jungs übern Berg sind.

Ich bekomme Frühstück. Ich sitze bei Minseok, mit dem PC auf dem Schoß. Ich lese immer mal wieder online-Nachrichten. Es ist ein Liveblog eingerichtet worden, wo ständig der neueste Stand der Ermittlungen und der Suche gezeigt wird. Es herrscht große Betroffenheit und Solidarität mit den gequälten Kindern im ganzen Land. Unendlich viele Menschen erinnern sich daran, Jimin und Minseok seit März irgendwo gesehen zu haben. Die Jungs sind offenbar östlich aus Busan raus und haben sich dann in einem großen Bogen nördlich davon nach Westen durchgeschlagen. Allmählich nähern sich die Hinweise Changwon. Noch ist die Polizei nicht auf der richtigen Fährte, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Wir wollen die Jungs ja so schnell wie möglich legal kriegen. Aber Jimin geht es jetzt mit Sicherheit so schlecht, dass wir versuchen müssen, das in seinem Tempo zu machen. Er muss mit den Entwicklungen Schritt halten können.

Irgendwann im Laufe des Vormittags kommt mal wieder unser Arzt Dr. Kim herein und untersucht Minseok eingehend.
„Das sieht alles sehr gut aus. Machen Sie sich keine Sorgen mehr, und geben Sie das bitte auch an den Bruder weiter. Der Kleine wird es schaffen. Ich habe die beiden auch noch nicht gemeldet. Das soll Jimin mit steuern dürfen."

Eine Weile später ruft mich Patrick an. Ich habe schon lange kein Zeitgefühl mehr. Aber ich erzähle ihm, wie hier der Stand ist. Er erzählt mir, dass nun auch Jimin Fieber hat, aber wohl eher aus Erschöpfung. Dann schicke ich Patrick ein paar Bilder von Minnie, damit er Jimin was zeigen kann, wenn der wach wird. Und arbeite weiter. Ich bekomme ein Mittagessen. Ich lege mich zu dem Kleinen und hole etwas Schlaf nach. Ich arbeite wieder. Ab und zu kommt jemand rein, kontrolliert die Werte und kuckt ganz zufrieden. Dann sind wir wieder allein.
Minnie ist zwar jetzt stabil. Aber er ist so gespenstisch ruhig dabei. Bewegt sich überhaupt nicht. Und am erstaunlichsten: er scheint Jimin nicht zu vermissen. Entweder ist er wirklich völlig weggetreten und rafft gar nichts mehr. Oder ... Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Oder er vertraut mir so sehr, dass es ihm tatsächlich reicht, dass ICH bei ihm bin.

Gegen Abend ruft Jimin an. Er klingt unglaublich leise, verletzlich, zermürbt, verweint. Aber er bedankt sich als erstes für die Hilfe in der letzten Nacht, die guten Nachrichten von heute Mittag und die beiden Bilder von seinem Bruder. Dann fängt er von sich aus an zu erzählen.
„Ich hab jetzt auch Fieber, aber das ist vielleicht nur Erschöpfung. Naja ... was heißt ‚nur' ... Jedenfalls. Ich bin erst heute Nachmittag richtig wach geworden. Und dann hat Patrick mir alles erzählt. Von der gelungenen Flucht der drei Choi-Brüder. Dass alle Verbrecher gefasst sind. Dass sie nach uns suchen, weil sie uns helfen wollen. Ich hab noch ziemlich Angst, dass sie uns trennen könnten, aber Patrick meinte, dass wir da wahrscheinlich auch gefragt würden. Ich hoffe es. ... Glaubst du, ich darf Seokie morgen mal besuchen?"
„Ich denke, da er stabil ist, wird das kein Problem sein. Aber ich kann dir natürlich nicht versprechen, dass er dann wach ist."
„Dann will ich mal schön still halten, damit ich morgen überhaupt laufen kann."

„Jimin, hat Patrick mir dir schon überlegt, wann wir euch der Polizei melden sollten?"
Jimin hält die Luft an am anderen Ende. Ich kann förmlich sehen vor meinem inneren Auge, wie er sich versteift und automatisch Fluchthaltung einnimmt.
„N.nein. Noch nicht. Muss das denn schnell sein?"
„Na, sagen wir mal so. Erstens macht sich die Hälfte aller Koreaner grade tierisch Sorgen um euch. Und zweitens sind die Hinweise aus der Bevölkerung so zahlreich, dass man auf der Landkarte richtig euren Weg verfolgen kann. Die Schulen haben natürlich als erstes geschaltet. Die Arbeitgeber und Kollegen Deiner diversen Jobs. Die Hinweiskette nähert sich allmählich Changwon. Du solltest uns also den Startschuss geben, bevor der Arzt angezeigt wird, weil er euch nicht gemeldet hat. Und sollte irgendjemand von der Gewerbegemeinschaft kapieren, dass der Große ihr Flyerjunge war, dann kriegt vielleicht auch Patrick Schwierigkeiten. Wir wollen aber, dass er eine weiße Weste hat und das Sorgerecht für euch bekommt."

Am anderen Ende der Leitung ist Stille, dann höre ich, wie Patrick sich dazusetzt und Jimin gut zuredet.
„Nicht weinen, Jimin. Du bist müde und hast Angst. Aber ... pass auf. Wir besuchen Minseok, und dann soll der Arzt bei der Polizei anrufen. Wenn ihr zusammen seid, ist es vielleicht für dich nicht so schlimm. Und du bist so alt. Du musst gefragt werden, wo du dich aufhalten willst. Das schaffen wir!"
„Jetzt gleich?"
„Ist deine Sehnsucht so groß?"
„Ja. Bitte!"
„Na gut. Pass auf, Taehyung. Dann kommen wir jetzt gleich. Sagst du dem Arzt Bescheid? Besprecht, wer von euch das macht. Wir sind bald da."

Gut. Dann eben gleich. Vielleicht ist es auch besser so. Dann hat Jimin diesen gefürchteten Moment hinter sich und kann noch ein bisschen mehr loslassen.
Ich klingele und bitte darum, Dr. Kim zu mir zu schicken. Der ist zum Glück gleich da. Wir besprechen uns kurz, dann geht er los, um die Polizei zu verständigen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass er klar macht, dass Jimins Wünsche zu respektieren sind und dass er als Arzt sie zu jeder Zeit wieder rauskomplimentieren darf. Immerhin sind wir hier auf der Intensivstation! Und wenn alle Stricke reißen, bleibt Jimin eben hier zu seinem eigenen Schutz. Wieviel wir für die Krankenhauskosten draufzahlen müssen, weil die beiden ja offiziell wohnungslos und nicht krankenversichert sind, ist jetzt auch egal.

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16.12.2020    -    15.1.2021

Mensch, ärgere dich nicht - Adventskalender 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt