Natürlich geht es Seokie heute Morgen nicht besser. Aber auch nicht schlechter. Und er will sogar unbedingt in die Schule, damit er von dem „Besuch bei seinem Onkel TaeTae" erzählen kann. Wir haben uns darauf geeinigt, dass er Patrick nicht erwähnt sondern nur Taehyung. Und leider ist der Kleine inzwischen ein so geübter Lügner, dass ihm das problemlos gelingen wird ... Ich bringe ihn wieder hin und warte, bis er drin ist im Gebäude.
Dann trolle ich mich zurück zu unserem Auto. Ich staune, wie sehr sich unser Leben in den letzten drei Wochen verändert hat. Nach all der Quälerei, nach der langen Flucht, den häufigen "in letzter Sekunde"-Momenten und der permanenten Angst – sind da endlich Menschen, die uns wohlwollen, die uns helfen und schützen und uns ein normales Leben ermöglichen wollen. Menschen, die es aushalten, dass ich angstgesteuert bin, und bereit sind, sich darauf einzustellen. Menschen, die ganz offen und ehrlich sind.
Es fühlt sich seltsam an – toll, glücklich – und sooo ungewohnt. Ja, ich glaube, ich nehme wirklich alles mit, ich breche die Brücken hierher ab und wage einen Neuanfang.Allein schon, in einer Wohnung in einem warmen, weichen Bett aufzuwachen, war dermaßen komisch. Ich hab gestaunt, wie schnell Minseok sich eingefunden hat in das Haus, die Kneipe und in die Herzen von Patrick und Taehyung. Die zwei sind gradezu dahingeschmolzen wie Frischverliebte. Ich weiß ja, worans liegt. Seokie hat einen natürlichen Charme, der so besonders wirkt, eben weil er sich dessen noch nicht bewusst ist. Ich kann nur hoffen, dass das auch noch lange so bleibt.
Im Transporter mache ich mich als erstes daran nachzuschauen, was ich an Taschen, Koffern und Rucksäcken habe. Immer, wenn wir es geschafft haben, an einem Ort länger unentdeckt zu bleiben, haben wir ja über Sperrmüll und Co. doch einiges angesammelt, was uns im Alltag nützlich war. Wenn wir dann weiterflüchten mussten, habe ich das meiste davon wieder zurücklassen. Aber diesmal ist alles anders. Wir flüchten nicht mehr. Wir bekommen eine große, eigene Wohnung. Ein Zuhause!
Theoretisch würde alles reinpassen. Aber es kommt allmählich in meinem Hirn an, dass es nicht mehr ums Sichern von alltagstauglichen Dingen geht. Sondern darum, was uns so wichtig ist, dass wir es weiterhin brauchen werden, um uns wohlzufühlen. Ich muss die alten Vorhänge nicht mitnehmen, weil wir schöne, neue da hängen haben werden. Aber der Gaskocher ist ein Gegenstand, den man genauso gut bei einem Campingurlaub brauchen kann.
Wenn man mal davon absieht, dass wir von einem friedlichen Campingurlaub noch so weit entfernt sind wie die Eisbären vom Südpol.
Allein die Tatsache, dass dieses Wort vielleicht irgendwann wieder zu meinem Vokabular gehören darf, ist schon eine Sensation.Ich setze einen Tee auf und mache es mir für einen Moment auf dem Rückbank-Sofa-Bett gemütlich. Ich habe überhaupt keine Vorstellung, wie man so einen riesigen Raum wie unser zukünftiges Wohnzimmer einrichten soll. Ein Zimmer für Seokie, eins für mich. Und dann hört es in meiner Vorstellung schon auf. Essen werden wir wohl meistens in der Küche. Aus dem dritten kleinen Raum könnten wir also einen Hausaufgabenraum für uns beide oder ein Spielzimmer für den Kleinen machen. Aber dann??? Außerdem hat er ja gar kein Spielzeug. Die Spiele aus dem Pub müssen ja immer wieder runter gebracht werden. Bücher, CD's, Berge von Klamotten, ausufernde Hobbies – das haben wir ja alles nicht.
Egal, ich pack weiter.Einen der alten Sperrmüllkoffer fülle ich mit unseren wenigen Klamotten. Mein Rucksack ist eigentlich immer fluchtbereit. Aber da sind ja auch ganz andere Sachen drin. Unsere Akten, die ich aus dem Büro klauen konnte. Mamas „Tagebuch für meine Söhne", das leider so furchtbar viel zu früh geendet hat. Die drei Fotos von uns als Familie, die sie damals beim Durchsuchen nicht gefunden haben und mir darum nicht wegnehmen konnten. Mamas kleines Adressbuch, das immer neben dem Telefon lag. Da steht auch die Adresse von unserer Tante drin, die uns damals zu sich nehmen wollte, aber nicht durfte.
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Mensch, ärgere dich nicht - Adventskalender 2020
FanfictionDer Ire Patrick O'Brien strandet in Südkorea und zieht in einer gut besuchten Einkaufsstraße eine irische Esskneipe auf. Als die Gewerbegemeinschaft beschließt, im Advent in allen Geschäften Sonderaktionen anzubieten, muss Patrick mitziehen. Er biet...