6.

2.7K 135 17
                                    

Seufzend lehne ich mich über das Geländer.

Einige Meter unter mir strömt ein stetiger Fluss an Schüler aufgeregt tuschelnd aus der Schule.

Nach Hogsmeade.

Mein Herz zieht sich kurz schmerzhaft zusammen.

Ich will nicht daran denken.
Ich will nicht an ihn denken.

Unwillkürlich vergraben sich meine Finger im weichen Stoff meines Umhangs, als würden sie nach Halt suchen.

Wie lange ist es her, als ich so unbedarft im Drei Besen saß, an meinen Butterbier nippte?
Und dann warst du auf einmal da. Einfach so.
Du hast dich einfach zu mir gesetzt, hast mich so verdammt lieb angeschaut.
Seitdem warst du immer da.
Bis zum Ende.

Jetzt bin ich alleine.

Bedrückt schließe ich meine Augen, atme tief durch.

"Was machst du noch hier?"

"Fuck!", erschrocken schrecke ich zurück, zücke meinen Zauberstab.

"So schlimm?", lachend lehnt sich Remus gegen das Geländer, wirft einen Blick auf die jungen Hexen und Zauberer. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken."

Mein Herz schlägt immer noch etwas schneller als sonst, auch wenn der Schock langsam abklingt.
Missmutig stecke ich meinen Zauberstab wieder weg. "Schleich dich doch nicht so an."

"Anschleichen?", amüsiert dreht er sich zu mir, schenkt mir ein Lächeln, das mir direkt in die Magengrube fährt.
Und dann sind da wieder diese Blicke, die irgendwas mit mir anstellen.
"Eine tote Ratte hätte mich kommen hören."

Immernoch etwas grummelig lehne ich mich wieder an die Brüstung. "Und du? Nicht nach Hogsmeade?"

"Nein.", seine grünen Augen wandern kurz ins Leere, dann fängt er sich wieder. "Ich wollte noch mal nach Seidenschnabel sehen, tragisch, oder?"

"Ja."
Seidenschnabel.
Der Hippogreif, der sterben wird, nur weil ein Schüler sich falsch benommen hat.
Das arme Geschöpf hat es nicht verdient, für die Fehler eines anderen zu büßen.

"Was machst du noch hier, Clarissa? Ich dachte, die jungen Leute zieht es alle nach Hogsmeade..."

Abwehrend schüttel ich meinen Kopf.
"Nein... Ich will nicht."

"Hm...?", ein kurzer, nachdenklicher Ausdruck huscht über sein Gesicht, so, als würde er versuchen, mich zu verstehen.

Tut mir leid, mein Lieber, aber keine Chance.
Ich verstehe mich selbst ja nicht einmal.

Anscheinend kommt er zum selben Schluss, denn sein Gesicht wird von forschend wieder zu diesen warmen Lächeln. "Willst du vielleicht mitkommen? Seidenschnabel freut sich über Gäste."

"Warum nicht?", jetzt grinse auch ich.
Vielleicht bin ich kein Wildhüter wie Hagrid, aber magische Geschöpfe mag ich trotzdem. "Etwas Ablenkung wird ihn bestimmt guttun."

"Sehe ich auch so.", einladend deutet er den Weg den Gang entlang. "Nach Ihnen."

Lachend mache ich ein paar Schritte in Richtung des Ganges. "Sind wir heute ein Gentleman?"

Remus zuckt nur mit den Schultern. "Immer."

Beeindruckend, wie gut er sich im Schloss auskennt.
Einmal hat er mir sogar einen Geheimgang gezeigt, der direkt in die Bücherei führt.

Kopfschüttelnd sehe ich zu ihn hoch. "Woher weißt du das alles?"

"Wir waren alle mal jung."

Die Sonne scheint heiß und hell auf uns hinab.
Es ist beinahe so, als wolle sie ihr Können beweisen.
Wenn man genau hinhört, kann man ihre leisen Angebereien verstehen.

Allerdings könnte das Gras etwas regen gebrauchen, es knackt und bricht unter unseren Füßen, als wir den Hang hinablaufen.

"So warm war es in Durmstang nie, oder?", merkt der Lehrer an.
Kann er meine Gedanken lesen?
Beunruhigende Vorstellung.

"Nein, zum Glück nicht. Naja... Wenigstens sind hier die Winter nicht allzu kalt."

"Wo kommst du eigentlich her? Durmstang liegt doch in Russland, oder? Was hat sich nach England verschlagen?"
Anscheinend interessiert es ihn wirklich.
Er interessiert sich wirklich für mich.
Aber ich kann es ihn nicht erzählen.

"Ach... Meine Familie und ich waren immer mal hier und mal da. Als sie... verstorben sind, bin ich in Elterwater geblieben.", fasse ich knapp zusammen.

Remus schweigt kurz. "Tut mir leid. Darf ich fragen, was passiert ist?"

Wieder muss ich schwer schlucken.
Wie sehr ich meine Erinnerungen hasse. Warum kann man nicht einfach vergessen?
"Voldemort.", gebe ich gepresst von mir. "Voldemort ist passiert."

"Scheiße...", kurz berührt er mich an meiner Schulter, lässt seine Hand kurz dort ruhen. "Falls du drüber reden willst..."

"Nein.", dankend winke ich ab, seine Hand verschwindet von meiner Schulter.
Es fühlt sich an wie ein schwerer Verlust und eigentlich wünsche ich mir, dass er sie nicht weggenommen hätte. "Ich bin die fünf Phasen der Trauer durchlaufen und hab damit abgeschlossen."
Lüge.
Ich lüge zu oft.

Auch er scheint nicht überzeugt, will aber anscheinend nicht tiefer Bohren.

Ein gut erzogener Mann.
Der Gedanke hebt meine Laune wieder an. Wer auch immer für ihn verantwortlich ist, hat gute Arbeit geleistet.

Wir nähern uns der Holzhütte.
Drinnen brennt kein Licht und auch Fang ist verschwunden.
Anscheinend hat auch der liebe Wildhüter sich nach Hogsmeade verzogen.
Aber der majestätische Hippogreif steht aufrecht im Blumenbeet.
Mein Herz zieht sich kurz zusammen, als ich die schwere Eisenkette erkenne, die das arme Geschöpf gefangen hält.

"Hallo, Seidenschnabel..."
Seine Stimme ist sanft, weich.
Nur ganz langsam nähert er sich ihn, wartet auf die Erlaubnis, ihn streicheln zu dürfen.

Im Licht schimmern die Federn beinahe Gold, als er den Kopf neigt.
Sanft legt Remus seine Hand auf den Schnabel des Geschöpfes, streicht ihn vorsichtig durch die Federn.
"Na, mein großer? Wie geht es dir?"
Seidenschnabel stößt nur einen leisen Schrei aus, bleibt aber ganz ruhig stehen, fixiert den Lehrer mit seinen stechenden gelben Augen.

Ich halte mich zurück.
Keine Ahnung warum, aber dieses Geschöpft übt ziemlich Eindruck auf mich aus, die langen Krallen, der geschwungene Hals, der sich den Liebkosungen entgegen biegt.

Remus wendet sich mir zu.
Auch er sieht in diesen Augenblick irgendwie überirdisch aus.
Ein Alien mit schief sitzenden Umhang, zerzausten Haaren und einen Oberlippenbärtchen.
"Hast du Angst?"

Ich antworte erst nicht.
Das Bild hat etwas magisches an sich und ich bin mir nicht sicher, ob man so einen Moment zerstören sollte.
"Nein... Aber... Keine Ahnung."

Lachend lässt er von Seidenschnabel ab, der daraufhin mürrisch brummt und wieder nach Aufmerksamkeit fordert. "Keine Sorge, ich weiß genau was du meinst. So ein Hippogreif kann ganz schon viel auf einmal sein, oder?"

Nein, das ist es nicht.

"Es ist einfach komisch zu wissen, dass er sterben wird."

"Hey...", aufmunternd geht er auf mich zu, legt mir wieder sie Hand auf die Schulter.
Die Hand, die mir auf irgendeine unlogische Art und Weise zu viel Halt gibt. "Es gibt einen Unterschied zwischen werden und sollen. Noch ist es nicht beschlossen."

Kurz schließe ich meine Augen.
Nein, noch nicht.
Aber es wird passieren.

Die Frau im Mond (Remus Lupin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt