Kapitel 49

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Wir hackten uns wieder ein und gingen unseren Weg weiter. Als wäre nichts gewesen. Als hätten wir nicht gerade mein Schicksal beschlossen.
Es ging nicht mehr allzu lange, bis wir den Innenhof vor meiner Wohnung erreichten. Etwas unsicher scharte ich mit meinen Füssen im Kies. Was sagt man jemandem, den man für eine ganze Weile nicht mehr sieht? Den man schon abgehackt, aber in einer Stunde wieder unglaublich lieb gewonnen hat? Eine einzige Frage schwirrte noch in meinem Kopf herum, aber ich würde sie nicht stellen. Es wäre zu erbärmlich. Ich biss mir auf die Lippe, um mein Mund daran zu hindern sich zu öffnen, aber offensichtlich kannte Ardy mich zu gut. „Spucks aus, Julie.“, er grinste mich aufmunternd an. Ich seufzte und fuhr mir durch die, vom Wind zerzausten, Haaren. „Was soll ich jetzt tun?“ Ardys Grinsen wurde nur noch breiter. „Nach oben gehen, Eis in dich hineinstopfen, kitschige Filme schauen und dich selbst bemitleiden?“ Ich lachte kurz auf. „Könnte ich, ja. Aber was denkst du, habe ich in den letzten zwei Wochen gemacht?“ Jetzt war es an Ardy zu lachen, aber es klang eher schwach und gepresst. Als er antwortete, war das Grinsen ganz verschwunden und er wirkte wieder ganz ernst. So langsam gewöhnte ich mich an den ernsten Ardy. „Mach weiter. Finde zurück in dein Leben.“ Es kam mir so vor, als würde er noch etwas anfügen wollen, aber es kam nichts mehr.
Ich zuckte nur mit den Schultern. So traurig es klang, sie waren mein Leben geworden. Er breitete seine Arme aus und dankbar liess ich mich von ihm in den Arm nehmen. Aber diese Umarmung war anders als die letzte. Dieses Mal gab ich ihm genauso viel Halt wie er mir. „Mach wieder Videos.“, sagte er lächelnd, als wir schliesslich auseinander traten. Er musterte mich und meinte dann: „Wir bleiben in Kontakt, oder?“ Schon wieder füllten sich meine Augen mit Tränen, aber ich schluckte sie hinunter und nickte. „Natürlich.“ „Ich richte es Felix und allen anderen aus.“ Ardy zögerte für eine Sekunde. „Taddl logischerweise ausgeschlossen.“ Diese Worte schmerzten. Aber nicht ganz so sehr, wie ich es erwartet hatte. Sie waren eher ein Dolch, als ein Schwert. Mir blieb nur übrig zu hoffen, dass dieser Dolch kein wichtiges Organ getroffen hatte.
Ein letztes Mal lächelte Ardy mich an und schliesslich drehte er sich ganz weg. Stumm blieb ich stehen und sah ihm hinterher. Kurz bevor er um die Ecke bog, blickte er noch einmal zurück. „Meld dich bei deinem Vater.“
Ein eiskalter Schauder lief mir den Rücken hinunter. Woher kam das jetzt plötzlich? „Ardy!“, ich rief ihm beinahe verzweifelt nach, aber er ignorierte meine Rufe. Stattdessen hob er die Hand und bog in die Hauptstrasse ein.
Für einen Moment erwog ich, ihm hinterherzulaufen, aber ich hatte genügend Filme gesehen, um zu wissen, dass ich ihn in der Menschenmenge nicht mehr finden würde. Wenn ich so darüber nachdachte, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass mein ganzes Leben momentan einem dieser Filme ähnelte. Ich sparte mir also diese Verwirrung. So gut es ging, versuchte ich nicht darüber nachzudenken, was Ardy als letztes gesagt hatte. Aber der Sturm in meinem Kopf hatte schon lange begonnen. Seufzend schloss ich die Tür auf und ging zu meiner Wohnung hoch.

In den nächsten Wochen und Monaten zog mein Leben an mir vorbei. Ich tat alles andere, als Ardys Rat zu befolgen. Obwohl es für alle anderen wahrscheinlich so aussah. Ich arbeitete weiter. Ich ging weiter zur Uni. Ich machte wieder Videos. Aber ich selbst wusste, dass ich eine Mauer um mich selbst aufgebaut hatte. Ab und zu erwischte ich mich, wie ich ins Nichts starrte und nichts tat. Ich sass einfach nur da. Ich glaube, innerlich war ich vollkommen leer. Meine Schlafstörungen hielten an. Wenn ich ausnahmsweise einschlafen konnte, fuhr ich am nächsten Morgen schweissgebadet wieder auf. Und dann hatte ich immer noch ewig Zeit, bis die Stadt langsam erwachen würde. Bald hatte ich mir angewöhnt jeden Morgen joggen zu gehen und ich muss zugeben, dass mir diese regelmässigen Runden gut taten. Zum ersten Mal seit langem machte ich mal wieder etwas sportliches und auch die frische Luft hatte mein Körper bitter nötig. Aber das machte noch lange nicht, alles wieder gut.
Die einzigen Lichtblicke meines immer gleichen Lebens waren die Treffen mit meinen alten Freunden. Nachdem ich mich mit Ardy ausgesprochen hatte, war es ein leichtes auch mit den anderen wieder Kontakt aufzubauen und so kam es, dass wir uns ab und zu in einem Café oder bei mir zu Hause verabredeten. Ins Youtuberhaus konnten wir natürlich nicht. Schon so war es schwierig genug mich mit allen gleichzeitig zu verabreden, ohne das Taddl gleich mitkommen würde. Er und Ardy waren schliesslich unzertrennlich.
Wahrscheinlich hört es sich krass an, zu sagen, dass dies meine einzigen Lichtblicke waren, schliesslich hatte ich auch Sean und Clarice. Ich mochte die beiden ja auch. Wirklich. Aber nach mehr als einem halben Jahr der aufregendsten Zeit meines Lebens, war es schwierig wieder in den Alltag zurückzufinden. Ich war wie eine Drogensüchtige, die man auf kalten Entzug gesetzt hatte. Und die Treffen mit den anderen Youtubern waren die Züge, die ich von der Zigarette von jemand anderem genommen hatte. Obwohl ich diese Momente wirklich abgöttisch liebte, war das aber auch dann, wenn ich das Loch in meinem Herzen am deutlichsten spürte. Immer fehlte irgendetwas. Irgendjemand zu wenig lachte oder ich drehte mich auf die rechte Seite, wo er immer gewesen war, um zu sehen, ob er Ardys Witz auch so lustig fand. Und dann war der Platz leer. Und der Witz gar nicht mehr so lustig. Aber jedes Mal bemerkte Ardy es, wenn ich zu lachen hörte. Zwischen uns war ein stummes Einverständnis entstanden. Er tröstete mich, mit einem kurzen Händedruck da oder einem aufmunternden Nicken dort. Ich lachte, machte weiter. Wartete weiter. So wie ich es ihm versprochen hatte.
Es war beinahe, als wäre Taddl tot. In meiner Gegenwart wurde um ihn herumgeredet. Man vermied seinen Namen und wenn es unausweichlich war, meinen Blick. Obwohl ich ihn vermisste, spürte ich, wie es langsam wieder bergauf mit mir ging. Wie ich mich nach anderen Männern umsah. Aber ich kriegte immer augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ich würde alles daran setzen, mein Versprechen zu Ardy zu halten. Er hatte so viel für mich getan. 

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt