Kapitel 30

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Während wir still da sassen, musterte ich ihn. Das Licht der Sterne spiegelte sich in seinen Augen und liess seine noch feuchten Haare schimmern. Wie immer wenn er nachdachte, kaute er auf seiner Lippe und mein Herz wurde weich, während ich ihn so ansah. Ich wollte ihn küssen. Ihm sagen, dass es mir egal war, ob er es verstanden hatte oder nicht. Dass ich ihn liebte und das genügte. Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Es war nämlich nicht die Wahrheit. Ich würde es später bereuen. Ich würde es bereuen, wenn ich tun würde, was mein Herz mir sagt.
Aber es war so verdammt schwer. Wie konnte ein Mensch nur so gut aussehen? Ich war selbst so in Gedanken versunken, dass ich es überhaupt nicht bemerkte, als er sich wieder aufrichtete. Erst als er meine Hände wieder in seine nahm, fiel es mir auf.
„Ich glaube, ich habe verstanden. Gib mir einfach ein wenig Zeit, in Ordnung?" Und wie ich einverstanden war. Jetzt konnte ich ihn endlich küssen. Ich löste meine Hände aus seiner Umklammerung und vergrub sie in seinen Haaren, während meine Lippen die seinen suchten. Im ersten Moment schien er wie erstarrt. Das war wahrscheinlich nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Aber das Erstarren dauerte nicht lange. Sanft schob er seine Hände unter meine Oberschenkel und zog mich auf seinen Schoss. Ich wehrte mich nicht. Als wir beide kurz Luft brauchten, sagte ich gegen seine Lippen: „Nimm dir alle Zeit der Welt." Ich konnte fühlen, wie er zu lächeln begann. Ich löste mich von seinen Lippen und küsste stattdessen seinen Hals. Meine Hände liess ich seinen wohlbekannten Körper erkunden, wie sie es schon so oft getan hatten. Und während seine das gleiche bei meinem taten, fühlte es sich an, als würde ich nach Hause kommen. Als würde sich das letzte Stück eines Puzzles endlich fügen.
Der Alltag holte uns nur allzu schnell wieder ein. Studium, Job, Youtube. Es machte Spass. Natürlich machte es das. Aber es war alles zu viel. Nie hatte ich Zeit für irgendetwas. Jede freie Minute und (manchmal auch nicht freie) verbrachte ich mit Taddl. Meine eigene Wohnung verstaubte langsam. Ich war am Ende. Mir war klar, dass ich mein Leben nicht ewig so weiterführen konnte. Aber ich konnte auch nichts aufgeben. Der Gedanke etwas aufgeben zu müssen verfolgte mich und liess mich nicht mehr los. Nur was? Was sollte ich loslassen?
Die Frage war ständig da. Wie ein Schatten, der über allem hing, was ich tat. Was für eine Ironie. Hatte nicht ich Taddl gesagt, er solle sich über die Zukunft keine Gedanken machen?
Als ich einige Wochen später aus dem Youtuberhaus trat, wurde ich von dem starken Wind beinahe umgerissen. Ich schlang mir den Schal enger um den Hals. Der Wind war nicht all zu kalt und brachte die herbstlichen Düfte der Kölner Innenstadt mit. Instant-Kaffee und die Kühle der Luft vermischt mit dem Geruch nach feuchtem Stein und fallenden Blätter. Ich atmete tief durch und genoss, wie meine Lunge beim Einatmen der Luft beinahe schmerzte. Der Herbst war schon immer meine Lieblingsjahreszeit gewesen. Die warmen Farben, der Nebel in der Luft, die gemütliche Ruhe vor dem kommenden Weihnachtsstress. Und gerade dieser Tag war besonders schön. Der Himmel war nur ab und zu von kleinen, flauschigen Wölkchen bedeckt. Die Sonne strahlte und wärmte mein Gesicht, aber ohne zu brennen. Es tat weh, zu wissen, jetzt den ganzen Tag im Starbucks verbringen zu müssen.
Ich schob meine Hände in die Taschen meines Mantels und steckte meine Nase tiefer in meinen Schal. Ich fror zwar nicht, aber so war es einfach gemütlicher.
„Jules! Warte kurz." Ich war schon drauf und dran gewesen die Strassenseite zu wechseln, als ich Ardys Stimme hörte. Ein wenig genervt drehte ich mich um. Er wusste doch, dass ich spät dran war. Ardy lehnte im Türrahmen. Er trug noch immer die Trainerhosen und den Joonge-Hoodie, die er schon getragen hatte, als ich mich von ihnen verabschiedet hatte. Das ganze Youtuberhaus hatte bei Simon gefrühstückt. Die letzten Tage hatte man sich gegenseitig sowieso öfters besucht. Das lag vor allem daran, dass Felix und Simon endlich wieder da waren. Die Longboardtour hatte halt doch länger gedauert, als erwartet.
„Ja?" Der Unterton in meiner Stimme sollte ihm klar machen, dass ich wirklich knapp dran war. Ich wollte nicht schon wieder zu spät kommen.
Ardy kam auf mich zu und blieb genau vor mir stehen. „Geh nicht zur Arbeit."
Er sagte es völlig nüchtern. Als wäre es bereits beschlossene Sache und als ob das kein Problem wäre. In diesem Moment wurde mir klar, dass er wahrscheinlich tatsächlich nicht wusste, dass ich in letzter Zeit schon zu oft früher gegangen war oder an der Uni Vorlesungen geschwänzt hatte.
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder.
„Komm schon. Wir haben gerade beschlossen, dass wir alle heute nicht aufnehmen werden. Heute machen wir uns einen gemeinsamen Tag. Einfach um Spass zu haben. Völlig ohne Kamera. Und es wären alle da! Sogar Caty!"
Es klang verlockend. So verdammt verlockend. Wir hatten schon zu lange nichts mehr alle zusammen unternommen. Und ich konnte mir vorstellen, wie es für Felix und Simon befreiend sein würde, so etwas ohne Kamera zu tun. Logisch beteuerten sie immer, dass es ihnen nichts ausmachte, aber ich glaubte ihnen nicht ganz. Ich für meinen Teil könnte so nicht leben. So beinahe ohne Privatleben.
„Jules, bitte. Du gehörst dazu. Ohne dich wäre es nicht das gleiche." Und dann musste er natürlich auch noch den Hundeblick aufsetzen. Jetzt hatte ich keine Chance mehr.

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt