Kapitel 19

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Eine rot blinkende Inschrift lud zum Eintreten ins Kino Orient ein. Von aussen sah es genauso aus wie die Kinos in den alten, amerikanischen Filmen. Auch als ich dann im Eingangsbereich stand, konnte ich nur staunen. Ich fühlte mich in eine andere Zeit versetzt. Es war wunderschön.
„Gefällt es dir?", riss mich eine wohlbekannte, tiefe Stimme aus meinen Gedanken. Ich drehte mich in die Richtung seiner Stimme und entdeckte ihn nur wenige Schritte entfernt, wie er, an eine Säule gelehnt, mich gespannt beobachtete. Ich breitete meine Arme aus und drehte mich um mich selbst. „Es ist unglaublich! Wie bist du nur darauf gekommen?"
„Ein Freund von mir hat hier mal gearbeitet. Ausserdem hab ich mal 'ne Kritik über das Kino geschrieben. Seitdem läuft es hier besser und sie waren mir was schuldig.", antwortete er, während er auf mich zu kam. Ich war noch immer völlig baff. Es war nie ein bewusster Traum von mir gewesen, in einem alten Kino zu sein, trotzdem fühlte es sich so an, als ginge einer in Erfüllung.
Ich wollte schon irgendetwas tiefgründiges sagen, doch Taddl war schneller. Er schnappte sich meine Hand und lief schon los, als er sagte: „Komm." Ich hatte keine Mühe mit ihm mitzuhalten. Ich war nicht die sportlichste Person auf Erden, aber er lief nicht all zu schnell. Als wir einen Gang erreichten, verlangsamte er sein Tempo, bis wir schliesslich normal gingen. Der Gang, den wir lang liefen, war an den Wänden mit Filmposter aus der Filmgeschichte voll gekleistert. Voller Staunen betrachtete ich sie. Immer wieder kamen wir an Filmen vorbei, die ich liebte und ich blieb stehen. Ich weiss nicht wieso, aber irgendetwas sagte mir, dass es Originalposter waren. Je länger wir liefen umso neuer wurden die Poster. Ich kam mir vor, als würde ich an der Filmgeschichte selbst vorbei laufen und jeden Film noch einmal erleben. Und Taddl ging die ganze Zeit neben mir. Meine Hand in seiner. Es fühlte sich an, wie das Natürlichste der Welt. Ganz am Ende des Ganges befand sich eine grosse Doppelflügeltür. Vor ihr blieben wir stehen. „Welchen Film willst du sehen?", fragte er mich und seine Augen funkelten erwartungsvoll. Ich sah ihn überrascht an. Ich würde wählen? Ich hatte erwartet, dass er schon längst ausgesucht hatte. „Was bietest du an?", stellte ich eine Gegenfrage. Dabei ratterten meine Gedanken. Sicher keinen Film, bei dem ich würde weinen müssen. Horrorfilme waren auch nichts für mich. Vielleicht etwas lustiges?
Er lachte leise als Antwort auf meine Frage und deutete auf den Gang, den wir gerade hinter uns gelassen hatten. „Glaubst du nicht auch, dass wir hier praktisch freie Auswahl haben?"
Ich sah noch einmal zurück und ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Das würde ich herausfordern. „Okay. Wir werden sehen."
Ich durchforstete mein Gehirn nach einem nicht allzu bekannten guten Film, aber mir kam einfach keiner in den Sinn. „Ist es für dich in Ordnung, wenn wir einen eher witzigen Film sehen?", fragte ich ihn, während ich immer noch fieberhaft nach einem passenden suchte.
Er grinste. „Klar. Besser als irgendetwas Kitschiges." Ich lächelte und spielte einen Moment lang mit dem Gedanken gerade deswegen einen solchen Film zu wählen. Ich verwarf ihn aber sofort wieder und suchte weiter. Taddl stiess unterdessen die Doppelflügeltür auf und ich folgte ihm in einen grossen Kinosaal. Die Sitze waren mit rotem Stoff überzogen und es sah wunderschön aus. Die Leinwand war riesig und mir fiel auf einmal ein, wie lange ich schon nicht mehr im Kino gewesen war. „Charlie und die Schokoladenfabrik", sagte ich bevor ich überhaupt näher darüber nachdenken konnte. Wieder einmal hatte mein Körper vor meinem Hirn reagiert. Taddl sah mich überrascht an. „Warum gerade dieser Film?" Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste es selbst nicht. Vielleicht weil er am Tag zuvor gesagt hatte, er möge Tim Burton, vielleicht aber auch, weil ich den Film mit seinen unglaublich bunten und grellen Farben schon immer mal im Kino sehen wollte.
„Keine Ahnung. Er ist mir gerade so durch den Kopf gegangen.", antwortete ich. Dabei trat ich nervös von einem Bein auf das andere. Stand ich jetzt blöd da? Es war ein Kinderfilm. Aber Taddl lachte und blies meine Zweifel somit schneller weg, als es jeder Wind vermocht hätte. „Ich mag den Film. Such dir einen Platz aus. Bin gleich wieder da." Mit diesen Worten, verschwand er wieder in dem Gang, aus dem wir gekommen waren.
Ich biss mir auf die Lippen, aber ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Er war so unglaublich süss. Schmetterlinge schienen in meinem Bauch auf und ab zu flattern. Ich kam mir vor wie eine verliebte 13-Jährige. Was machte er nur aus mir?
Okay. Wo willst du sitzen, Jules? Ich liess meinen Blick über das Kino schweifen. Nur schon dabei machte mein Herz einen Satz. Es war so perfekt. Und wunderschön. Jetzt liess sich das Grinsen nicht mehr verkneifen und ich begann breit lächelnd durch die Sitzreihen zu streifen. Schliesslich liess ich mich irgendwo in der Mitte fallen. Gerade rechtzeitig, denn in diesem Moment begannen die purpurroten, schwer aussehenden Vorhänge sich zu öffnen. Ich fuhr mir noch einmal durch die Haare und atmete tiefdurch.
Ich schaffte es tatsächlich mich auf die Leinwand zu konzentrieren, denn ich hörte ihn nicht kommen. „Willst du auch Popcorn?" Ich fuhr zusammen und sah nach hinten. Taddl stand hinter mir mit seinem umwerfenden Lächeln auf dem Gesicht und hielt die grösste Popcorntüte, die ich je gesehen hatte, in der Hand. Er lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah. „Keine Angst. Das bringen wir schon weg. Ich habe mit Ardy schon mal gut dreimal so viel gegessen." Er sprang über die Sitze und irgendwie schaffte er es, dabei kein Popcorn zu verschütten. „Dreimal so viel? Nur in deinen Träumen.", meinte ich und schnappte mir eines. Sie waren gesalzen. Zum Glück. Ich hasste Popcorn mit Zucker.
„Doch! Ohne Witz. Wir hatten so einen Filmnachmittag.", verteidigte er sich und setzte sich neben mich. Daraufhin grinste ich in mich hinein. Ich konnte mir die beiden nur zu gut bei einem gemeinsamen Filmnachmittag vorstellen. In diesem Moment begann der Film und ich wandte mich wieder der Leinwand zu. Ich konnte mich aber nicht auf den Film konzentrieren. Ich wusste ja, dass er direkt neben mir sass. In der Hälfte gab ich es auf und beobachtete ihn. Er war vollkommen im Film vertieft. Die Farben spiegelten sich in seinen kristallblauen Augen und ab und zu schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Irgendwann sah auch er zu mir hinüber. Ich sah jedoch nicht weg, sondern sah ihm weiter in die Augen, während mein Herz verrückt spielte. Auf einmal hatte ich eine Idee. Keine Ahnung wie ich darauf gekommen war, aber ich war fest entschlossen, sie um zu setzten. Er sollte wissen, dass ich nicht wie jedes Mädchen war. Dass er mich jetzt nicht einfach küssen konnte, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte. Wir kamen uns immer näher und ich musste mich zusammenreissen, um nicht loszulachen. Kurz bevor unsere Lippen sich berührten, zog ich mich zurück, hob meine Hand und schmiss ihm ein wenig Popcorn ins Gesicht. Dann schnappte ich mir den Kübel mit dem restlichen, sprang auf und einige Sitzreihen nach unten. Da ging ich hinter dem nächstbesten Sitz in Deckung. Ich wusste, dass er auch noch Popcorn in der Hand hatte. Der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand und verwandelte sich in ein breites Grinsen. „Weisst du, ich dachte eine Portion Popcorn reicht nicht", rief er lachend zu mir hinunter, seine Hand griff hinter seinen Sitz und tauchte mit einem genau so grossen Kübel Popcorn wieder auf. Das hatte ich nicht erwartet. „Man! Jetzt hast du sogar mehr Munition als ich.", beschwerte ich mich grinsend und schmiss ihm eine Faust voll ins Gesicht. „Das kriegst du zurück!", lachte Taddl und vergrub seine Hand tief im Popcorn. Ich sprang auf und versuchte dem Regen aus Popcorn auszuweichen, um zu meinem Ziel zu gelangen. „Nein! Du versteckst dich sicher nicht hinter den Vorhängen!", hörte ich ihn mir hinterher rufen. Als ich mich kurz umdrehte, sah ich, dass er mir folgte. Um ihn abzulenken, schleuderte ich eine weitere Handvoll in seine Richtung. Aus den Geräuschen, die er von sich gab, schloss ich, dass ich getroffen hatte. Trotzdem schätzte ich ihn viel zu nahe ein und beschleunigte meine Schritte. Als ich die kleine Bühne erreicht hatte, die die Leinwand von den Sitzen trennte, drehte ich mich noch einmal um. Er war tatsächlich ziemlich nahe. In diesem Moment hob er die Hand und das Popcorn traf mich voll ins Gesicht. Glucksend vor Lachen sprang ich die Treppe zu Bühne hoch. Kurz bevor ich die Vorhänge erreichte, wurde ich von zwei starken Armen umschlungen. Blitzschnell drehte ich mich so, dass ich ihm den Rest des Popcorns ins Gesicht schmeissen konnte. Mit dem Pappkübel natürlich. Dass brachte ihn dazu, seinen Griff für einen Moment zu lockern. Aber es war lang genug. Ich befreite mich und rannte weiter Richtung Vorhang. Die Leinwand hatte ich schon erreicht. Der Film lief noch immer und so direkt davor, blendeten mich die Farben. Mein Zögern genügte Taddl, mich wieder einzuholen. Er stütze seine beiden Hände links und rechts von mir ab, so dass ich keinen Ausweg hatte. Ich drehte mich zu ihm um und sah in sein lächelndes Gesicht. Wo er seinen Popcornkübel hatte, kümmerte mich nicht, alles was ich sah, waren seine Augen. „Jetzt hast du keine Wahl. Jetzt musst du dich küssen lassen.", stellte er lachend fest.
„Falsch.", antwortete ich und lächelte, „Ich habe immer eine Wahl."
Einen Moment lang sah er verwirrt aus, doch kaum eine Sekunde später hatte Taddl wieder sein Grinsen im Gesicht. „Tatsächlich?"
„Tatsächlich. Ich kann nämlich dich küssen." Und schon fanden meine Lippen seine und meine Hände schlossen sich um seinen Nacken. Im Film wurde irgendetwas geredet, aber das war zweitrangig. Er schmeckte angenehm nach Popcorn. Oder sollte ich eher sagen, wir schmeckten nach Popcorn? Denn ich tat es bestimmt auch. Wie schon beim letzten Mal war der Kuss von Anfang an voller Leidenschaft und als die Schmetterlinge in meinem Bauch zu Flugzeugen zu mutieren begannen, wurde mir klar, wie sehr ich mich in ihn verliebt hatte.
Als er sich von mir löste, kam es mir so vor, als würden meine Beine mich nicht mehr tragen wollen und ich war froh, dass seine Arme mir noch immer jede Möglichkeit mich zu bewegen nahmen. Gleichzeitig fragte ich mich, weshalb er unseren Kuss jetzt schon beendete. Doch Taddl hatte auch darauf eine Antwort, ohne dass ich die Frage überhaupt gestellt hatte. Er gab mir nicht einmal die Chance mich zu wundern, als er hinter sich griff und schon regnete es Popcorn auf meinem Kopf. Als ich realisierte, was da gerade geschah, begann ich zu lachen und konnte beinahe nicht mehr aufhören. „Du bist unglaublich.", brachte ich zwischen zweimal Kichern hinaus. Er sah mich einfach nur an und irgendwann brach auch er in Gelächter aus. Fasziniert hörte ich auf zu lachen. Wie um Gottes Willen lachte den er? Nach diesem Gedanken schüttelte es mich nur noch mehr. Wie das aussehen musste. Im Hintergrund lief die Schlussszene des Films, Popcorn überall verstreut und wir zwei, wie wir uns vor Lachen nicht mehr halten konnten. Als wir uns endlich wieder ein wenig beruhigt hatten, sah ich ihn ein wenig beunruhigt an. Das Ganze war so abstrakt. Doch Taddl lächelte. „Weisst du was, Jules?" Ich schüttelte stumm den Kopf und er lächelte noch breiter. „Mit Popcorn in den Haaren, siehst du sogar noch schöner aus." Daraufhin fiel mir erstmal nichts ein. Schliesslich meinte ich: „Und weisst du was, Taddl Tjarks?" Jetzt war er an der Reihe den Kopf zu schütteln. „Ich hab mich Hals über Kopf in dich verliebt." So etwas auszusprechen. Sprach man das nur in den Filmen aus? War das jetzt zu kitschig?
Und während im Hintergrund die Abspann Musik erklang, schlang er seine Arme um mich und sagte leise, während er mich zu sich heranzog, „Das ist ganz gut so."

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt