Kapitel 11

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Meine Beine begannen zu zittern und alles begann sich zu drehen. Das ganze Zimmer war so bekannt und vertraut, aber gleichzeitig so anders. Im Stuhl in der hinteren Ecke, in der mein Vater immer gesessen hatte, sass eine fremde Frau, die über einem Klatschmagazin eingeschlafen war. Die Storen waren unten und das ganze Zimmer wurde nur vom kalten Licht der Neonröhren an der Decke beleuchtet. Ich hatte dieses Licht gehasst. Es hatte nie gebrannt, solange ich in diesem Zimmer gewohnt hatte. Auch wenn es draussen schon dunkel gewesen war, das einzige Licht im Zimmer war vom Mond oder den Sternen gekommen. Aber das Bett war immer noch gleich. Und ganz egal, wie oft ich hinsah, ich konnte Kristen nicht darin entdecken.
Ich sah immer nur mich. Wie ich im selben Bett gelegen war, mit all diesen Schläuchen rundherum, den piependen Maschinen und dem ganzen Körper voller Schmerz. Aber weder die Schmerzen, noch die Maschinen oder die Schläuche waren das schlimmste gewesen. Wie immer wenn ich daran dachte, breitete sich der bittere Geschmack wieder auf meiner Zunge aus und mein Herz wurde schwer. Die Schuld breitete sich in meinem Körper aus wie Morphium und liess alles ganz schwer und kaum zu ertragen werden. Ich konnte nicht hier bleiben. Es hatte ein halbes Jahr gebraucht bis ich die Schuldgefühle so weit unter Kontrolle hatte, dass sie mich nicht jede Nacht überwältigten. Und jetzt stand ich hier. Hier wo sie angefangen hatten, mich zu jagen. Ich ertrug es nicht. Ich drehte mich um und wollte schon aus dem Zimmer stürzen, als ich durch das kleine Fenster in der Tür Kristens Vater sah, wie er das Gesicht verzog, um nicht zu weinen. Ich sollte wenigstens ein paar Worte zu ihr sagen. Könnte ja sein, dass sie mich hörte. Aber ich brachte es nicht über mich. Ich schaffte es nicht einmal mich zu ihr umzudrehen. Ich stiess die Tür auf und lief genau in ihren Vater hinein. Er hatte sich die Tränen weggewischt und war offensichtlich wieder auf dem Weg nach drinnen.
„Wollen Sie schon wieder gehen?", seine Stimme klang noch immer leicht zittrig. Ich nickte nur und sah auf meine Füsse, während ich die ersten Tränen hochkommen fühlte. Dabei fiel mein Blick auf die Blumen in meiner Hand. Die Stiele waren völlig verknittert. Wahrscheinlich hatte ich sie unbewusst viel zu fest zusammengedrückt. Meine Unterlippen begannen zu zittern und meine Beine fühlten sich so an, als würden sie mich nicht mehr lange tragen. Schwindel und Übelkeit stiegen in mir hoch, als ich ihm die künstlich stinkenden Blumen in die Hand drückte und anfing zu rennen.
Der Gang kam mir endlos vor. Als würde ich ins nichts rennen. Alles um mich war weiss. Es blendete mich. Ich sah nur die Treppe so weit entfernt. Ich rannte und rannte, hatte aber nicht das Gefühl mich irgendwie fortzubewegen. Ich ignorierte meine zitternden Beine und die Übelkeit, die unterdessen alles zu beherrschen schien. Sogar die Schuldgefühle waren weg. Obwohl mein ehemaliger Therapeut wohl gesagt hätte, dass das ein Anzeichen auf Schuldgefühle war.
Ich erreichte die Treppe völlig ausser Atem. Dieser Gang war wirklich nicht immer so lange gewesen. Ich schlitterte sie hinunter und wäre einige Male beinahe hingefallen. Aber ich fing mich immer wieder rechtzeitig. Alles was zählte war, aus diesem Krankenhaus hinaus zu kommen. Weg von diesem Geruch, den polierten Böden und überfreundlichen Angestellten.
Die Treppe endete so abrupt, dass ich einen Moment völlig perplex da stand. Die Lobby sah noch genau gleich aus wie vor fünfzehn Minuten, aber doch komplett anders. Jetzt sah ich sie nämlich aus jenem Blickwinkel, aus dem ich sie schon tausend Mal gesehen hatte. So lange ich in diesem Krankenhaus gewesen war, war die Treppe immer mein Ort gewesen. Ich habe immer auf der untersten Stufe gesessen und das Treiben beobachtet. In einem Krankenhaus verirrt sich praktisch nie jemand im Treppenhaus.
Ich hätte nicht im Krankenhaus sein müssen. Mit einem Schlag waren alle Schuldgefühle zurück. Ich schaffte es nicht länger die Tränen zurück zu halten und liess sie deshalb einfach heiss und feucht über meine Wangen laufen. Ich konnte diesen Geruch nicht länger ertragen.
Ich versuchte, so gut es auf meinen wackligen Beinen auch möglich war, die grosse Eingangstür zu erreichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Einfach keine blöden Fragen.
Als ich endlich bei der Tür ankam, musste ich mich mit dem ganzen Körper dagegen pressen. Gleichzeitig versuchte ich die Blicke, die ich auf meinem Rücken spürte, zu ignorieren.
Draussen angekommen sank ich völlig atemlos auf die Stufen. Sie waren angenehm kühl. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie heiss mir auf einmal war. Die Hitze brannte genau so heiss in mir, wie die Schuldgefühle. Heiss und unerbittlich. Schienen mich förmlich von innen aufzufressen. Ein Tränenschleier versperrte mir die Sicht. Ich wollte nur noch nach Hause, mich in meiner Decke einkuscheln und nie wieder aufstehen. Doch ich hatte keine Ahnung wie ich nach Hause kommen sollte. Alleine würde ich das niemals schaffen. Ich sah nichts, mein Kopf drehte sich und ich konnte praktisch nicht mehr stehen. Als ich nämlich versuchte aufzustehen, zitterten meine Beine so stark, dass ich wieder auf die Stufen sinken musste. Während mein Kopf immer noch pochte, kramten meine Hände schon nach meinem Handy. Wen könnte ich anrufen? Clarice und Sean waren nicht erreichbar. Kristen... Ein neuer Schwall Tränen liessen mich aufschluchzen. Es schüttelte mich. Leo würde nicht mit mir sprechen. Dass wusste ich. Sie hasste mich. Aber sie hatte auch allen Grund dazu. Die Schuldgefühle drohten mich zu überwältigen und alles schwankte. Wo war oben, wo unten? Dad? Nein, auch er hasste mich. Ich hatte sonst niemanden. Ich war völlig alleine. Meine Augen schafften es irgendwie, auf den leuchtenden Screen vor mir zu fokussieren. Die Nachrichtenseite war noch immer geöffnet. Felix. Würde er es verstehen? Was würde er von mir halten?

Aber meine Finger entschieden vor meinem Gehirn, welches immer noch pochte. Sie scrollten hoch und drückten auf „Anrufen". Es piepte nicht lange. Dann hörte ich Felix Stimme und ich begann wieder zu zittern. „Hallo? Jules?"
„Ha...llo.", ich brachte nur erstickte Wörter heraus. Die Tränen liefen mir immer noch in Strömen die Wangen hinunter. „Hast d...du ein A...A...Auto?"
„Was ist los?", seine Stimme klang gleich viel seriöser und irgendwie besorgt. Man konnte natürlich hören, dass es mir nicht gut ging. Ich zögerte, bevor ich antwortete. Meine Stimme brach beinahe beim nächsten Satz und ich vergrub meinen Kopf in meinen Händen. „Ich... kannst du mich abholen?"
„Klar. Ich leih mir Izzi's Wagen. Wo bist du?", er klang immer noch beunruhigt, aber auch irgendwie abgelenkt. Als würde er jemandem neben ihm mit den Händen erklären, um was es ging. Ich musste beinahe lächeln, aber die Erinnerungen und Schuldgefühle verdrängten alle anderen Gefühlsregungen sofort wieder.
„Ich bin vor dem Krankenhaus.", gab ich zu und ich klang dabei schwach und zittrig.
„Krankenhaus? Jules, was..." Ich henkte auf.
Ich wollte es nicht erklären.
Noch nicht.

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt