Kapitel 52

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Eine Weile starrte ich ohne etwas zu sagen auf den Brief. Dann hob ich langsam den Blick und sah direkt in Ardys Augen. „Hat aber lange gedauert, mir den zu geben, was?" Ich hätte mich am liebsten gleich selbst geschlagen. So zickig tönte ich. Ardy runzelte die Stirn, sagte aber nichts. „Ich... entschuldigt mich bitte." Ich schluckte und stand auf. Etwas Freiraum war jetzt wahrscheinlich das beste. „Bin gleich wieder da." Felix nickte. Simon jedoch machte Anstalten aufzustehen und mir zu folgen. „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst." Caty berührte ihn leicht am Arm und nach einem Blickaustausch setzte er sich wieder. Ich schluckte erneut, aber der aufsteigende Kloss in meinem Hals wollte nicht verschwinden. Diese fünf Menschen waren momentan die wichtigsten Personen in meinem Leben und trotzdem liess ich sie einfach hiersitzen. Es war lächerlich. Sie hatten mich schon dutzende Male weinen sehen. Es war beinahe grausam von mir, sie so hier zu lassen. Ich beschleunigte meine Schritte, während mir immer mehr Tränen in die Augen stiegen. Wann ich genau zu rennen begonnen hatte, weiss ich nicht mehr, ich hoffe nur, es war ausser der Sichtweite der anderen. Als ich zu einer Brücke gelangte, verlangsamte ich meine Schritte. Das war schon zu weit weg, um in akzeptabler Zeit wieder zurück zu gelangen. Ausserdem hatte ich keinen Plan, wo ich eigentlich war. Das Rennen hatte mich abgelenkt und die Tränen hatten nicht zu Laufen angefangen. Stattdessen kamen sie jetzt mit doppelter Kraft zurück. Alles verschwamm und die Welt drohte wegzukippen. Weshalb ich weinte, spielte keine Rolle. Klar, der Brief meines Vaters war berührend gewesen, aber hätte ich mich über seine Worte nicht freuen sollen?

Ruckartig drehte ich mich um, um mich auf das nächste Stückchen Rasen fallen zu lassen, aber stattdessen prallte ich in einen strammen Körper.

„Scheisse. Kannst du nicht aufpassen?" Mein Blick war noch immer verschwommen, ich erkannte nur die Statur eines jungen Mannes. Und etwas kaltes, feuchtes auf meinem T-Shirt. Er hatte natürlich ein Eis in der Hand gehabt. Ein wenig in Panik sog ich scharf die Luft ein. „Es... tut mir..." Ich hielt inne. War das etwa Mangoeis, das ich hier roch? Ich blinzelte meine Tränen weg und mein Herz blieb stehen. Direkt vor mir stand Taddl. Leiblich und wahrhaftig. Ich kannte keinen anderen Jungen, der sonst Mangoeis ass. Er sah noch beinahe so aus, wie bei unserer letzten Begegnung. Zu meiner Überraschung war er komplett ungestylt. Nicht einmal seine Haare hatte er hochgestellt. In den Ohren hatte er seine iPhone-Kopfhörer, die er sonst nie gebraucht hatte, wenn er aus dem Haus ging. Zu mainstream. Mit gerunzelter Stirn starrte er auf sein ebenfalls schmutziges Shirt hinunter.

Meine erste Intuition war, eine Strähne, die ihm ins Gesicht fiel, hinters Ohr zu streichen. Oder ihn sonst zu berühren. Einfach nur, um mir zu beweisen, dass er echt war. Das er er war. Und nicht nur eine Einbildung meines völlig fertigen Gehirns.

Meine zweite Option war, mich umzudrehen und wegzulaufen. Ohne gross zu überlegen, entschied ich mich für die zweite Möglichkeit. Alles an dieser Situation war absolut und ganz und gar unvorteilhaft. Scheisse, ich sah sicher völlig am Ende aus und dazu hatte ich ihn noch angerempelt und sein Eis ruiniert. Kaum hatte ich umgedreht, hörte ich, wie er hinter mir scharf die Luft einsog. „Jules! Jules, warte." Obwohl ich mich innerlich dafür verfluchte, liess mich seine tiefe Stimme schaudern. Und ich hielt an. Natürlich hielt ich an. Warum um Gottes Willen hielt ich an?

Als ich mich zu ihm umdrehte, versuchte ich ein Lächeln, aber ich wusste, dass es eher wie eine Grimasse aussah. Schliesslich funkelten in meinen Augen noch immer Tränen. Hoffentlich glaubte er nicht, ich weinte seinetwegen. Ich würde es nicht ertragen, wenn er dachte, ich trauerte ihm immer noch nach.

„Hi." Sogar dieses einzelne Wort klang gepresst. „Hi." Er lächelte von einem Ohr zum anderen, als wäre er froh mich zu sehen. Wahrscheinlich hätte ich auch so reagiert, wäre da nicht die Tatsache, dass er und sein bester Freund mir einen Brief von meinem Vater, mit dem ich seit zwei Jahren kein Kontakt mehr hatte, ein halbes Jahr nicht weitergegeben hatten. Und mit diesem Gedanken wurde ich plötzlich sauer. Wieder einmal. Ich hatte schlimmere Stimmungsschwankungen als eine Hochschwangere. Und die Wut kroch in mir hoch, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Habe ich euch erzählt, dass ich als Kind ziemlich jähzornig war und eine Weile sogar einen Therapeuten besuchte? Ein lodernd heisses Feuer, das von meinem ganzen Körper Besitz ergriff. Es übermannte mich wie ein Tsunami. Beste Voraussetzung für ein klärendes Gespräch mit seinem Ex.

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt