Kapitel 15

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Meine Stimme brach und ich bemerkte, dass mir Tränen die Wangen hinunterliefen. Ich war so in Erinnerung vertieft gewesen, dass ich völlig vergessen hatte, dass ich sie eigentlich jemandem erzählte. Als ich aufsah, starrten mich sechs Augen an. „Es tut mir leid.", schluchzte ich und wischte mir schnell die Tränen weg, „Ich wollte euch nicht meine ganze Geschichte erzählen. Es tat einfach so gut." Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Es hatte tatsächlich gut getan. Als hätte sich ein Knoten in meiner Brust gelöst.
„Jules.", sagte Taddl sanft und ich spürte seine grosse Hand auf meiner Schulter. Ich hob langsam den Kopf und meine Augen trafen die seinen. Er wischte mir mit dem Daumen die Tränen von der Wange. Dabei verlor er nie den Blickkontakt.
„Jules. Du hast so viel durchgemacht. Dir an so vielem die Schuld gegeben, obwohl es nicht die deine war. Dir zu viel Schuld gegeben, wenn es die deine war. Und dabei wieder zu dir selbst gefunden. Ich habe dich als eine selbstbewusste, wunderschöne, junge Frau getroffen und kennen gelernt. Und du hast gerade grossen Mut bewiesen, in dem du dich deinen tiefsten Ängsten gestellt hast. Du hast jemandem dein Innerstes gezeigt. Und weisst du, was du damit bewiesen hast?"
Während seinem Monolog hatte er mich leicht am Kinn gepackt, um zu verhindern, dass ich wegsah. Seine Worte liessen mich völlig in seinen Augen versinken, so dass es eine Weile dauerte, bis zu mir durchsickerte, was er gerade gesagt hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Was hatte ich bewiesen?
„Du hast zum einen bewiesen, dass du diese Frau bist, die ich in dir sehe. Du hast bewiesen, dass du so viel mehr wert bist, als du selbst siehst. Dass du aus deinen Fehlern gelernt hast. Und dass ist das Wichtigste."
Er küsste mich leicht auf die Wange, wie ich es getan hatte, um mich von unserem Date zu verabschieden, dann stand er auf. Er machte Ardy und Felix ein Zeichen. Die beiden erhoben sich ebenfalls, musterten mich einen Augenblick, dann gingen alle drei und liessen mich völlig verdattert zurück.
Immer und immer wieder liess ich mir Taddl's Worte durch den Kopf gehen. Irgendwann fielen mir die Augen zu.
Irgendetwas kitzelte meine Nase und ich öffnete langsam meine Augen. Wo war ich? Plötzlich fiel mir alles wieder ein. Dabei stach etwas besonders hervor. Ihre Reaktion. Sie war so anders, wie ich sie erwartet hatte. Ich hatte einen Menschen ins Koma gefahren und es schien ihnen egal zu sein. Du hast bewiesen, dass du die Frau bist, die ich in dir sehe. Ein angenehmer Schauer rieselte meinen Rücken hinunter. Er hielt so viel von mir. Dabei konnte man nicht sagen, dass er zuvor viel über mich gewusst hat. Dafür wusste er jetzt alles. Jetzt war es praktisch umgekehrt, ausser ihrem Beruf wusste ich nichts über sie.
Nein, dass stimmte nicht. Ich wusste, dass sie einer praktisch Fremden ein Bett und Kleider anboten, um gesund zu werden. Ach ja! Ich war ja krank gewesen. Davon spürte ich nichts mehr. Die Übelkeit, die Schwindelgefühle und die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Ich fühlte mich leicht. Als könnte ich einfach davon fliegen. Als hätte ich einen schweren Rucksack endlich absetzen können.
Als ich das Zimmer mustere, stellte ich fest, dass alles noch genau gleich aussah, wie zuvor. Nur war es dunkel. Jemand musste das Licht gelöscht haben. Ich stand auf und bemerkte erleichtert, dass die Kopfschmerzen nicht zurückkamen. Aus einiger Entfernung konnte ich Stimmen hören, also ging ich in ihre Richtung.
Ich landete wieder beim gleichen Zimmer wie das letzte Mal. Wie zuvor schon, hielt ich zu erst inne, um zu lauschen.
„Wie lange schläft sie jetzt schon?", fragte, ganz klar, Felix.
„Fünf Stunden.", antwortete eine Stimme, die ich Ardy zuordnete, „Hast du unterdessen aufgenommen?"
„Ja. Eine Folge mit Tim und eine mit Simon. Simon will übrigens noch hoch kommen. Er will Jules auch kennenlernen. Jetzt, wo er so viel von ihr gehört hat." Simon? Wer war dieser Simon und wie viel hatten sie ihm erzählt? „Was hast du ihm erzählt, weshalb sie bei uns schläft?", sprach Taddl meine Frage aus. „Nur, dass es ihr nicht so gut ging, weil sie etwas Traumatisches erlebt hat. Da kann er sich selbst denken, was.", antwortete Felix beschwichtigend. Ich atmete hörbar aus. Obwohl ich es endlich jemandem erzählt hatte, wollte ich nicht, dass es gleich alle wussten.
„Hey.", meinte jemand direkt hinter mir. Ich zuckte zusammen und drehte mich ruckartig um. Ein Mann mit Dreadlocks, den ich etwas älter als die anderen schätzte, stand hinter mir. Er hatte eine Art Kopftuch an, wahrscheinlich um die Dreads hinten zu halten und den strubbligen Anfang zu verdecken. „Hi.", antwortete ich und lächelte ihn an.
„Willst du nicht reingehen?", fragte er mich und zog eine Augenbraue hoch. Scheisse. Wie das wieder ausgesehen haben muss. Ich beim lauschen. Na toll. Da hatte er auch von Anfang an eine gute Meinung von mir. „Doch klar. Ich bin gerade erst aufgewacht.", erklärte ich und deutete an mir hinunter. Ich trug noch immer Taddls Sachen und meine Haare waren ganz verstrubbelt. Er zog die Augenbraue noch höher, wahrscheinlich hat er Taddl's Klamotten erkannt. Bevor es noch peinlicher werden konnte, trat ich durch die Tür.
„Morgen Jungs. Ihr habt Besuch.", sagte ich und zeigte auf den Gang. Der Dreadlocks-Typ kam rein und musterte dann kurz den Raum.
„Na, Simon. Hat es dir die Sprache verschlagen?", fragte Felix und hielt den Kopf schräg, um den Besucher zu betrachten. Er sass wieder im selben Sitz-Sack und auch Taddl sass noch immer auf dem Sofabett, nur das Ardy dieses Mal neben ihm sass.
„Mir die Sprache verschlagen? Das träumste, ne?", grinste der Typ, der Simon sein musste. Er liess sich am Fussende des Sofas sinken. „Und du bist Jules, in diesem Fall?"
„Jep." Ich grinste und liess mich im Schneidersitz auf den Boden sinken.
„Wie geht es dir?", Taddl musterte mich besorgt. „Mir geht's super. Keine Kopfschmerzen und keine Übelkeit mehr." Ich zuckte mit den Schultern und wedelte ein wenig mit den Armen, um zu zeigen, wie gut es mir ging. Ardy stand auf und kam auf mich zu. Dann legte er mir die Hand auf die Stirn.
„Kein Fieber mehr.", stellte er fest.
„Sagte ich doch." Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Ja, aber das hast du auch gesagt, als du noch Fieber hattest.", wiedersprach er mir. Ich grinste. „Touché."
„Gehen wir heute Abend noch Longboarden?", fragte Simon und sah in die Runde.
„Abend?", ich schreckte hoch, „Welche Zeit haben wir?"
„Es ist jetzt genau fünf Uhr.", meinte Simon nach einem Blick auf seine Uhr. „Was?", ich stand auf, „Habt ihr irgendwo mein Handy?"
„Ganz ruhig, Jules. Es liegt da auf dem Tisch.", versuchte Felix mich zu beruhigen, „Wir haben es aus deiner Hosentasche genommen, dass es nicht kaputt geht, während du schläfst." Ich nickte und ging so schnell wie möglich zu meinem Handy. Kein Aku mehr. Scheisse. „Was ist los?", fragte Taddl und sah mich verwundert an. „Ich hätte heute arbeiten müssen.", meinte ich und verfluchte mich innerlich, dass ich das vergessen hatte. Felix lachte auf. „Was?", ich sah ihn an und meine Augen mussten leicht wütend funkeln, denn er hob abwehrend die Hände. „Eine Freundin von dir, namens Clarice hat angerufen und ich hab abgenommen. Sie hat gefragt, wo du steckst und ich hab ihr erklärt, was passiert ist. Das war vor etwa zehn Stunden."
„Das hast du getan?", ich war echt überrascht. „Ja und sie wollte sofort herkommen, doch ich habe ihr erklärt, du würdest schlafen und wie würden uns um dich kümmern.", erklärte er und sah so aus, als wäre er nicht ganz sicher, ob er das Richtige getan hat. Mein Herz wurde ganz warm bei seinem unsicheren Blick und bei dem Gedanken an die stürmische Clarice, die sofort zu meiner Rettung geschritten wäre. Ich ging zu Felix und umarmte ihn. „Danke.", sagte ich, als ich wieder einen Schritt zurück trat. „Euch allen." Ich drehte mich ein Mal um mich selbst und fixierte zuerst Ardy, dann Taddl. „Ich denke, es ist jetzt Zeit zu gehen.", stellte ich fest und lächelte schräg. „Ich habe einiges nachzuholen." Okay, zugegeben, das war gelogen. Ich brauchte einfach ein wenig Zeit für mich. „Ich zieh mich nur kurz um." Mit diesen Worten schlüpfte ich aus dem Zimmer und ging in Taddl's zurück. Ich schlüpfte in meine Sachen, band meine Haare hoch und liess mein Handy, welches ich immer noch in der Hand hatte, in die Hosentasche fallen. Meine Schuhe. Wo waren meine Schuhe? Wahrscheinlich hatten sie sie mir am Abend zuvor ausgezogen. Ich ging durch den Gang nach vorne und fand mich tatsächlich in einer Art Eingangsbereich wieder. Ich zog meine Converse an und ging zurück ins Wohnzimmer.
„Können wir dich fahren?", fragte Felix und musterte mich noch einmal, als ob er Anzeichen auf meinen Gefühlszustand suchte. Ich liess mir das Angebot durch den Kopf gehen. Ich hatte keine Ahnung, wo in Köln wir uns befanden. „Weisst du, wo die Zentralbibliothek ist?", stellte ich eine Gegenfrage. Als er nickte, fuhr ich fort. „Meine Wohnung befindet sich direkt daneben."
„Praktisch für eine angehende Literaturstudentin.", grinste Ardy. Ich nickte, „Eigentlich schon. Aber dahin ist es noch ein langer Weg."
„Ich fahr dich.", schlug Felix vor, „Kann ich dein Auto ausleihen?" Die Frage ging an Simon. Der zuckte mit den Schultern. „Klar. Ich nehme jetzt sowieso mit Manu auf, also geht das in Ordnung." Er kramte in seiner Hosentasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein. Er warf ihm Felix zu und dieser fing ihn mit Leichtigkeit. „Ich komme mit. Wir müssen noch einkaufen.", meldete sich Taddl und stand auf. „Stimmt.", bestätigte Ardy, „Ich bleib aber hier. Hab noch mit More 'nen Termin."

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt