Kapitel 51

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„Vielleicht erinnerst du dich, vielleicht auch nicht, aber als wir uns nach dem Meeting noch unterhalten haben, habe ich doch ganz am Ende gesagt, du sollst dich bei deinem Vater melden..." Er wartete auf meine Bestätigung. Und wie ich mich noch daran erinnerte.
„Ich würde sagen, zugerufen wäre das bessere Wort.", bemerkte ich trocken und wartete darauf, dass er fortfuhr.
Ardy räusperte sich und fuhr sich durch die Haare. „Genau. Das hat natürlich auch damit zu tun."
Um ehrlich zu sein, überraschte mich diese Aussage nicht wirklich. So etwas hatte ich mir schon gedacht.
„Weisst du noch, wie wir den Fanpost-Briefkasten eingerichtet haben?", stellte er eine weitere Frage. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Den hatte ich völlig vergessen. Kurz vor Neujahr hatten wir in einem Video verkündet, dass wir eines dieser Postfächer mieten würden. Logischerweise hatte das eine Welle Faneuphorie zur Folge. Aber ich hatte schon länger nicht mehr daran gedacht. Noch viel wichtiger: Was hatte Fanpost mit meinem Vater zu tun? Ardy seufzte, als er meine Verwirrtheit bemerkte. „Okay. Du weisst wovon ich spreche." Ich nickte. „Du und Taddl habt euch getrennt, bevor wir das Postfach einmal öffnen konnten. Als wir es zum ersten Mal taten, war auch einiges für dich dabei. Wir haben es noch, falls du es willst." Ich nickte wieder. „Als wir die Post nach Namen sortierten, fiel uns ein Brief auf. Er war in einem sauberen, weissen Umschlag und fein säuberlich zugeklebt. Das ziemliche Gegenteil der anderen Briefe, die sich alle an Farbigkeit übertreffen wollten. Der Umschlag war an niemand bestimmten adressiert, also bitte verzeih uns, dass wir ihn geöffnet haben."
Ich wusste schon, wie der nächste Satz lauten würde, bevor Ardy ihn ausgesprochen hatte. „Der Brief war von deinem Vater." Ich machte ein Geräusch zwischen Seufzen und Stöhnen und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ardys Stimme war sanft, beinahe als würde er zu einem Kleinkind sprechen. „Ich habe ihn hier, falls du ihn lesen willst." Ich sah nicht auf, sondern grunzte zur Antwort. Meine Gedanken rasten. Ich wusste nicht genau, ob ich in Tränen ausbrechen sollte, zu schreien oder zu lachen anfangen sollte. Alle drei Optionen schienen mir nicht wirklich angemessen zu sein. Mein Vater kannte meinen Youtube-Channel. Er hatte meine Videos gesehen. Er hat mein Leben weiterverfolgt. Er interessierte sich noch immer für mich. Und wenn Ardy mir den Brief geben wollte, konnte er nicht schlecht sein oder? Schliesslich würde Ardy mir nie etwas Böses wollen. Ich spürte eine Hand auf meinen Schultern und nach einem tiefen Atemzug sah ich hoch. Einfach nicht auszurasten war auch eine Lösung. Das konnte ich nach dem Lesen des Briefes immer noch. Ardy hatte sich vor mich hingesetzt und auch die anderen hatten sich um mich herumplatziert. Fast als wollten sie mich vor der Aussenwelt abschirmen. Dabei war an dieser Stelle am Rhein niemand ausser uns. Aber vielleicht wappneten sie sich einfach für die Emotionen, die der Brief in mir auslösen würde. Die meisten von ihnen hatten mich schon einmal emotional erlebt und wussten, dass, wenn ich weinen musste, es meistens in einer Sturzflut kam. Ich zählte darauf, das Caty noch ein Taschentuch hier hatte.
„Jules?" ich sah zu Ardy, der mich besorgt betrachtete. „Ich denke wirklich, dass du ihn lesen solltest." Ich nickte bedacht und schluckte schwer. Dann streckte ich langsam meinen Arm aus und nahm Ardy den Brief, den er wohl aus seinem Rucksack geholt haben musste, aus der Hand. Mit einem letzten, schweifenden Blick durch die Runde, faltete ich den Brief auseinander. Noch während ich das tat, wurde mir klar, wie sehr ich mir gerade wünschte, dass Taddl hier wäre. Es spielte nicht einmal eine Rolle, dass ich nicht mehr seine Freundin war. Seine Präsenz, seine Aura, seine Körperwärme in der Nähe, seine weiche Hand auf meiner Schulter, sein aufmunterndes Lächeln. Es hätte unglaublich geholfen. Ich biss mir auf die Lippen, um den Tränen in meinen Augen einen anderen Grund zu geben, als der Schmerz in meinem Herzen. Dabei war ich doch gerade dabei gewesen, über ihn hinweg zu kommen.
Das Rascheln von Papier in meinem Schoss, riss mich aus meinen trübseligen Gedanken und brachte mich zurück zu meinem Vater und dem rauen Briefpapier in meinen Händen. Ich erkannte seine Schrift sofort. Sie war immer noch genauso krakelig und weil er links schrieb, ein wenig verschmiert. Dann fokussierte ich meinen Blick wieder und begann zu lesen.

„Jules.
Ich weiss nicht, wo ich beginnen soll. Ich habe dir so viel zu sagen. Es tut mir alles so leid. Alles, was geschehen ist. Aber vor allem, dass du dich gezwungen gefühlt hast, zu gehen. Ich verstehe, warum du diesen Schritt wagen musstest. Es war die beste Entscheidung, die du treffen konntest. Aber du musst wissen, dass ich dich vollkommen unterstützt hätte und ich sehe jetzt, wieviel ich falsch gemacht habe. Ich bereue so viel in meinem Leben, aber am meisten, dass ich dir zu wenig gesagt habe, wie sehr ich dich liebe.
Denn, Jules, dass tue ich wirklich. Und ich vermisse dich. Ich wäre gerne dabei gewesen, als du in deine erste eigene Wohnung gezogen bist. Oder wie du dich selbst gefunden hast. Und begonnen hast, erwachsen zu werden.
Aber auf eine Art und Weise hast du mir bereits eine zweite Chance gegeben. Dein Youtubechannel gab mir die Möglichkeit, dich stückweise auf deiner Reise zu begleiten. Es ist unglaublich, wieviel du gelernt hast und wieviele neue Erfahrungen du sammelst. Ich bin so stolz auf dich.

Du fragst dich sicher, wie ich darauf gestossen bin. Die Antwort kennst du wahrscheinlich bereits. Denn ich bin nicht der Einzige hier, der einiges bereut. Leonie hat deinen Namen jeden Tag gegoogelt. Sie hat darauf gehofft, dass eines Tages deine neue Adresse auftaucht. Wir nahmen an, du wärst weit, weit weggezogen. Aber stattdessen tauchte dein Name zuerst auf komischen Seiten wie Wattpad.com oder tumblr (hast du das nicht auch immer gebraucht?) auf. Es dauerte eine Weile, bis wir deinen Youtubechannel fanden. Weshalb hast du dort auch so einen komischen Namen?
Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie überwältigt wir waren. Dich wiederzusehen und zu sehen, dass du dich wieder gefangen hast. Du scheinst glücklich zu sein. Was kann ich mir als Vater mehr wünschen? Ich bin wahrscheinlich dein fleissigster Zuschauer. Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich noch nie in meinem Leben so stolz gewesen bin, Jules. Nicht einmal, als ich Bürgermeister wurde. Du tust etwas, dass nicht nur dich, sondern auch andere Menschen glücklich macht und ihnen hilft. Und nebenbei gehst du sogar noch zur Uni!
Du verwirklichst alle Träume, die die du schon immer hattest und solche von denen du nicht wusstest, dass es sie gibt.
Als ihr diese Adresse angegeben habt, wusste ich, dass nun meine zweite Chance gekommen war. Ich habe endlich die Möglichkeit mit dir Kontakt aufzunehmen. Also bitte, Jules. Schreib mir. Oder komm mich mal besuchen, denn auch ich werde älter und dass Leben zieht nicht spurlos vorbei.
Vergib mir, ich bitte dich. Aber am allerwichtigsten, vergib dir selbst.

Ich vermisse dich.

Dein Dad."

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt