Kapitel 14

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„Ich wurde in einem kleinen Dorf nicht weit von hier geboren. Und wenn ich klein sage, dann meine ich klein. Es war, oder bessergesagt ist, eines dieser Dörfer die man im amerikanischen Fernsehen sehen kann. So eines, wo jeder jeden kennt. Was bedeutet, jeder kannte auch die Geheimnisse von jedem. Trotzdem war es voller Lügen, Zwiespalt und kleinen Fehden. Was man als Kind jedoch noch nicht mitbekam. Ich war ein Einzelkind. Meine Eltern hatten keine grossen Chancen darauf, ein Baby zu bekommen, weshalb sie umso aufgeregter waren, als sie erfuhren, dass meine Mutter schwanger war. Sie wünschten sich einen Jungen. Stellt euch ihre Enttäuschung vor, als ihr einziges Kind ein Mädchen war. Denn Namen haben sie trotzdem gelassen.
Unsere Nachbarn hatten eine Tochter, die am gleichem Tag zur Welt kam. Und obwohl unsere Welten grundsätzlich völlig verschiedene waren, wurden Leo und ich bald unzertrennlich. Mein Vater besass nämlich einen Supermarkt und war ein weltoffener, immer froher Mensch. Nebenbei arbeitete er an einer politischen Kariere. Meine Mutter war Kindergärtnerin. Leo's Eltern waren beide Banker. Sie repräsentierten für mich bald das, was die ganze Stadt für mich war. Engstirnig, zu genau, pingelig und viel zu strukturiert. Für Leo und mich war der Garten meiner Familie eine Oase. Hinter dem Haus hatte mein Dad mir mal ein Baumhaus gebaut, welches schon bald unser ein und alles wurde. Leo und ich verbrachten praktisch unsere ganze Kindheit dort oben.
Als Kindergärtnerin bekam meine Mutter nicht gerade wenig Tratsch mit. Und getratscht wurde in unserem „Ach alles ist so schön"-Dorf als wäre es eine Regel in der Bibel. Als ich neun war, wurde mein Vater in den Stadtrat gewählt und er war kaum noch zu Hause. Irgendwann fand meine Mum heraus, dass er sie betrug. Aus und vorbei war die Heile Welt. Immer mehr wurde mir klar, wie es hinter den Kulissen unseres Dorfes zuging. Am Sonntagmorgen ging man brav in die Kirche, danach ging man Wahlzettel fälschen oder die Frau betrügen. Es kotzte mich an. Bei Leo war es nicht so schlimm. Ihre Eltern waren sowieso kaum zu Hause. Meistens waren sie im Ausland oder sonst auf geschäftlichen Reisen.
Meine Mum wurde depressiv. Sie stellte meinen Vater nie zur Rede, sondern sah stumm zu wie er mit einem Knutschfleck oder nach einem Parfüm, welches nicht ihres war, stinkend nach Hause kam. Sie ass praktisch nichts mehr. Schluckte Pillen. Bald waren es so viele, dass ich sie nicht mehr zählte.
Ich stürzte mich ins lernen. Lenkte mich ab. Machte die besten Noten.
Ich fühlte mich immer unwohler. Mir war klar, dass ich, sobald ich das Abi hatte, in eine grössere Stadt ziehen würde. Irgendwohin wo man anonym war.
An meinem vierzehnten Geburtstag, kam es schliesslich so, wie es kommen musste. Ich kam von der Schule heim. Die Tür zu unserem kleinen Haus war offen. Das war seltsam. Meine Mum war normalerweise noch nicht zu Hause und mein Dad kam sowieso nie vor neun Uhr abends heim. Ich zog also die Schuhe aus und ging hinein. Ich verstand nicht sofort. Erst als ich ein zweites Mal hinsah, war klar, dass sie nicht auf ihrem Stuhl eingenickt war. Sie war tot. Die übrigen Pillen verstreut auf dem Tisch. Es roch nach Erbrochenem. Man sagt immer, Tote sehen friedlich aus. Doch ihr Gesichtsausdruck war das lebende Leiden. Mein erster Impuls war aus dem Haus zu laufen, einen Spaziergang zu machen und dann nach Hause kommen, wo meine Mutter sicher an einem Kreuzworträtsel sitzt und Michael Bublé hört. Doch ich wusste, dass es nicht so war. Dass wenn ich wieder zurückkommen würde, sie immer noch genau gleich da sitzen würde. Alles begann zu verschwimmen. Irgendwie habe ich wohl die Polizei gerufen, denn sie kamen eine halbe Stunde später. Sie fanden mich im Baumhaus. Oder besser gesagt, Leo fand mich. Sie sagte, ich hätte gezittert und kein Wort raus gebracht. Schöner Geburtstag, nicht wahr? Dass ist auch der Grund, weshalb ich ihn normalerweise nicht feiere.
Ich habe es lange nicht geschafft zu weinen. Es war die Nacht vor der Beerdigung. Erst da weinte ich. Ich hatte ein Telefonat meines Vaters mitangehört. Er dachte wohl, ich würde schon schlafen. Ich nehme an, es war seine Geliebte. Sie sprachen davon, ob ich sie kennenlernen sollte. Eine Woche, nach dem meine Mutter gestorben war. An Depressionen. Seinetwegen.
Aber obwohl ich das wusste, gab ich nie wirklich ihm die Schuld. Mehr seinem Job als Stadtrat. Dadurch hatte er seine Familie aus den Augen verloren. Und dem Dorf. Ich begann es zu hassen. Abgrundtief. Es gab die wildesten Gerüchte, weshalb sie sich umgebracht hatte. Alle hatten von ihren Depressionen gewusst, aber niemand hatte etwas getan. Und jetzt zerrissen sie sich das Maul darüber. Ein halbes Jahr später zog die Geliebte meines Vaters bei uns ein. Ich färbte meine Haare schwarz. Trug nur noch schwarze Klamotten. Kam abends zu spät nach Hause, nur um meinen Vater zu ärgern. Was er nicht wusste, war, dass ich eigentlich die ganze Zeit zu Hause war. Hinten im Baumhaus. Ich hatte alle meine Schreibsachen und mein Schulzeug dort hinten und arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Mein einziges Ziel war das Abi zu schaffen und dann abzuhauen.
Leo kam zu dieser Zeit mit Linus zusammen. Er war echt ein netter und sie liebte ihn auch, aber ich ertrug es nicht, wie sie immer nur noch bei ihm war. Wo ich sie doch brauchte. Und mein Vater kam zu Hause immer mit: „Nimm dir ein Beispiel an Leonie und Linus. Die kommen nicht zu spät nach Hause." „Sieh dir mal Linus an, er ist echt ein anständiger, junger Bursche."
Wie zum Protest freundete ich mich mit Gabin an. Er und seine Freunde waren stadtbekannt für ihre kleinkriminelle Seite. Ich verliebte mich in seine charmante und lockere Art. Wir waren bald ein Paar.
Obwohl ich lange fort blieb, ab und zu auch sprayte und Party machte, blieben meine Noten stabil. Als ich siebzehn wurde, waren Gabin und ich ein Jahr zusammen und ich war überglücklich. Leo und ich hatten uns von einander entfernt, aber trotzdem war sie noch immer meine beste Freundin und wir trafen uns regelmässig im Baumhaus um zu quatschen. Seit der zweiten Sekundarstufe waren wir auch nicht mehr miteinander in der Klasse und ich glaube diese Veränderung hat uns beiden gut getan. Gabin begann sich zu verändern. Er wurde herrisch. Besitzergreifend. Ich begann Angst vor ihm zu haben. Nirgends fühlte ich mehr wohl. Zuflucht fand ich in der Musik und in Büchern. Vor allem in den Büchern. Das war das erste Mal, wo der Wunsch sich zeigte, Literatur zu studieren. Ich verliess Gabin jedoch nicht. Ich hatte zu grosse Angst. Vor ihm. Vor den Gerüchten, die es geben würde.
An meinem achtzehnten Geburtstag bestand Gabin schliesslich darauf, dass ich eine Party machte. Zudem hatten wir endlich das Abi gepackt. Es stand also nichts mehr im Weg, um aus diesem Drecksloch zu verschwinden. Also stimmte ich zu. Wir feierten auf der Fussballwiese. Irgendjemand hatte Boxen mitgebracht. Und natürlich gab es auch Alkohol. Ich hatte zuvor schon ab und zu einige Schlucke gehabt, aber ich war noch nie betrunken gewesen. An diesem Abend kamen plötzlich immer mehr Leute. Menschen, die ich nicht kannte.
Ich bekam Angst. Vermisste meine Mutter. Vermisste meinen Vater, wie er früher gewesen war. Ich begann mich zu betrinken. Leo versuchte mich davon abzuhalten, aber ich war fest entschlossen. Der Alkohol brannte in meinem Hals. Irgendjemand kam auf die Idee, ein Autorennen zu veranstalten. Ich kicherte und war dabei. Ich hatte den Führerausweis erst an jenem Nachmittag gemacht und war voller Vorfreude, ihn benutzen zu können. Gabin war mit mir im Auto. Er sass jedoch hinten und einer seiner älteren Freunde sass auf dem Beifahrersitz. Neben Gabin sass irgendein blondes Mädchen, welches sich die ganze Zeit an ihn ranschmiss. Und obwohl ich ihn langsam zu hassen gelernt hatte, war ich eifersüchtig. Er war ja immer noch mein Freund.
Ich würde ihm schon zeigen, dass ich besser war. Ich würde dieses Rennen gewinnen. Ich weiss nicht mehr, wer im anderen Auto sass. Leo war schon lange nach Hause gegangen. Ich glaube ihre exakten Worte waren: „Das ist nicht mehr, die Jules, die ich kenne."
Dann ging das Rennen los. Und ich war gut. Ich war schnell. Ich überholte geschickt, aber draussen war es dunkel und es hatte begonnen nebelig zu werden. Plötzlich spürte ich eine unbekannte Hand auf meinem Bein und ich erschrak so sehr, dass das Auto auf die Gegenfahrbahn geriet. Und dann sah ich die zwei Punkte an Licht, die immer näher kamen. Ich trat auf die Bremse, so fest wie ich nur konnte, aber es war zu spät. Das realisierte ich und nicht einmal eine Sekunde später kam der Knall.
Ich wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Im Kölner, um genau zu sein. Ich glaube, ich war zwei Wochen im Koma. Innere Blutungen. Sie konnten jedoch keine Schäden meines Hirnes feststellen und warum ich im Koma gelegen habe, war ihnen nicht klar. Später sagten sie, es käme vom Schock. Mein linker Arm war gebrochen und sonst noch einiges verstaucht. Ich fühlte mich zerschmettert. Doch mir ging es gut, im Gegensatz zu dem Jungen im anderen Auto. Er hatte Hirnblutungen und sie wussten nicht, wie es ihm gehen würde, wenn er erwachte. Und dieser Junge war Linus. Natürlich musste es der Freund meiner besten Freundin sein. Mich plagten schreckliche Schuldgefühle. Nachdem ich das erfahren hatte, sprach ich eine Woche nicht. Sie gaben mir ein Armband mit dem Schriftzug „Geistig verwirrt". Ich weiss es nicht genau, aber ich glaube, ich lebte etwa drei oder vier Monate dort, bis mein Therapeut mich für bereit hielt, nach Hause zu gehen.
Doch zu Hause war es noch schlimmer. Mein Vater sprach nicht mehr mit mir. Leo erst recht nicht. Als ich dann endlich vollends für gesund erklärt wurde und nicht mehr jede Woche zum Therapeuten musste, setzte ich meine wochenlange Planung in Tat um und haute ab. Ich schrieb einen Brief an meinen Vater und Leo, in dem ich erklärte, ich würde nach Köln ziehen, mir täte alles furchtbar Leid und das sie mich jetzt nicht mehr würden sehen müssen. Von Gabin hatte ich nichts mehr gehört. Dass war für mich aber okay.
Linus war unterdessen wieder aufgewacht. Es ging ihm prima. Trotzdem und trotz aller Worte meines Therapeuten frass die Schuld mich innerlich auf.
Tja und heute hatte meine Chefin einen Unfall. Sie liegt im Spital mit Hirnblutungen genau wie Linus. Von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Betrunken! Um 12 Uhr Mittag? Wer ist denn das?
Ich ging sie besuchen und es war noch alles genau gleich wie vor einem Jahr. Da hat es mich einfach...
Dass ertrug ich nicht. Alle Gefühle von damals sind zurückgekommen. Die Schuld, die ich so gut zu verdrängen gelehrt hatte. Ich... „

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt