Kapitel 8

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Ich war schon über eine Stunde zu spät. Mit ihm zu reden, liess mich die Zeit wohl völlig vergessen.
„Was ist?“, fragte er mich, als er meinen veränderten Gesichtsausdruck sah. Ich glaube, ich hatte das ganze Gespräch durch nur gelächelt. „Ich bin viel zu spät.“, antwortete ich gestresst, während ich schon aufstand. Ich kramte ein wenig Geld aus meiner Hosentasche und wollte es schon auf den Tisch legen, als ich seine weiche Hand auf meiner spürte. Sie war gross und angenehm warm, aber nicht feucht und schien perfekt über meine zu passen. „Lass nur.“, meinte Taddl, der unterdessen ebenfalls aufgestanden war „geh jetzt lieber, sonst kommst du noch später.“ Ich wollte schon wiedersprechen, doch er schüttelte den Kopf und ich liess zögernd meine Hand sinken. Dann wurde mir auf einmal klar, wieviel zu spät ich tatsächlich war und ich drehte mich schon um, um aus dem Restaurant zu stürzen, als ich mich noch einmal umdrehte. Ich gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange und rannte los. Ich stiess die Tür des Restaurants auf und machte, dass ich so schnell wie möglich zum Starbucks kam.

Als ich ankam, blieb ich kurz stehen und versuchte meine Atmung zu beruhigen. Sollte ich mich hinausreden oder die Wahrheit sagen? Ich überlegte immer noch, als ich meinen Arbeitsplatz betrat. Er war beinahe leer. Es war circa viertel vor vier, was bedeutete das ich tatsächlich über eine Stunde verspätet war. Sean und Clarice standen hinter der Theke und schienen sich gerade angeregt zu unterhalten. Kristen konnte ich nirgends entdecken. Ich ging um die Theke herum. Erst jetzt schienen die beiden mich zu bemerken. Clarice Make-up war verschmiert. Es sah so aus, als ob sie geweint hätte. Auch Sean wirkte aufgewühlt. Das kannte ich von ihm gar nicht. Er war doch immer so bodenständig. Ein Stein, den niemand verrücken konnte.
"Was ist los?“, fragte ich die beiden und machte mich innerlich aufs Schlimmste gefasst. Hatten sie es erfahren? Wussten sie das, was ich von meinem neuen Leben so verzweifelt fern zu halten versuchte?
„Kristen hatte einen Unfall.“, antwortete Clarice und ihre Stimme zitterte dabei. Im ersten Moment fiel mir ein Stein vom Herzen. Sie hatten nichts erfahren. Sie wussten nichts. Doch nicht einmal zehn Sekunden später überrollten mich ihre Worte. Das schlechte Gewissen packte mich. Wie konnte ich nur so egoistisch denken? Was, wenn Kristen ernsthaft verletzt war? Was, wenn sie…

Ich brachte es nicht einmal über mich, es zu denken. Eine eisige Hand schloss sich um mein Herz.
„Was?“, rief ich aus. Sean schüttelte den Kopf, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Sie ist nicht tot.“ „Aber in einem kritischen Zustand.“, fügte Clarice hinzu und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte schon immer einen Hang dazu gehabt, Gefühle nur in extremen Ausmassen zu haben.
Aber auch mir wurde leicht schwindlig und alles begann vor meinen Augen zu verschwimmen. Kristen. Gerade sie hatte so etwas nicht verdient. Sie, die fremden, streunenden, jungen Menschen einfach so einen Job anbot. Die nicht nach Vergangenheiten und Beweggründen fragte. Sean bemerkte, dass meine Beine nach zu geben drohten und schob mich sanft zu einem Stuhl beim Tisch, der am nächsten zur Theke stand. Er kniete sich vor mich. „Sie hatte einen Autounfall, als sie aus der Mittagspause zurück wollte.“, erklärte er, „Der andere Autofahrer war betrunken gewesen.“
Bei seinen Worten wurde ich sofort in eine völlig andere Zeit versetzt. Es war dunkel gewesen. Und so kalt. Nur mein Rachen hatte vom heissen Alkohol noch gebrannt.
„Sie liegt im Koma.“, brachte Sean mich in die Gegenwart zurück, „die Ärzte vermuten Hirnblutungen.“ Ich schluckte zweimal leer und nickte dann. Meine Hand fand automatisch die kleine Stelle unter meinem Bauchnabel, wo sich die Narbe befand.
Ich verlor mich schon wieder fast in Erinnerungen, wenn nicht mein Handy in diesem Augenblick vibriert hätte. Ich atmete noch einige Male tief ein und aus, um mein Herz zu beruhigen, welches seit ich den Starbucks betreten hatte in einem unglaublichen Tempo schlug.
Ich ging jedoch nicht ans Handy. Ich stand auf und ging zu Clarice hinüber, die unterdessen ihren Tränen freien Lauf liess. Ich umarmte sie und wischte ihr mit meinem Daumen die Tränen weg. Ich musste jetzt stark sein. Ich durfte meine eigene Schwäche nicht zeigen.
„Hör mal, Süsse.“, tröstete ich sie, „geh nach Hause und ruh dich erst mal aus.“ Verwirrt trat sie einen Schritt zurück. Ihr Make-up war jetzt nicht mehr zu gebrauchen. Eine schwarze Spur verriet genau, wie ihr die Tränen die Wangen hinuntergelaufen waren. „Das ist kein Ding.“, beteuerte ich, „Echt nicht, Clarice. In einer Stunde kommen auch Barbie 1 und 2.“ Das waren unsere Spitznamen für die beiden Studentinnen, die am Nachmittag bei uns jobbten.
Immer noch zögernd, stand sie da. Ihre Unterlippe zitterte leicht. Als würde sie bald wieder in Tränen ausbrechen. Plötzlich spürte ich eine weiche Hand auf der Schulter. Sie war vertraut. Sean lächelte auf mich hinunter, als ich den Kopf drehte. Ich lehnte mich zurück und entspannte mich ein wenig. „Jules hat Recht.“, bestärkte er mich, „Komm einfach morgen wieder, wenn es dir besser geht.“ Nach noch ein wenig Überzeugungsarbeit machte sie sich auf den Weg.

Ein Räuspern liess Sean und mich zusammen zucken. Wir standen immer noch genau gleich da. Ich an ihn angelehnt, mein Kopf an seiner Schulter und er strich mir sanft über das Haar. So hatten wir das immer gemacht, wenn es jemandem von uns schlecht ging. In dieser kurzen Zeit, in der ich ihn kannte, hatte er sich zu einer Art grossem Bruder entwickelt. Und trotz allem kannte er immer noch nicht meine ganze Geschichte.
Das Räuspern gehörte zu einer mittelalten Dame, die uns mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete. Sean grinste und ging zu ihr zur Theke hinüber. „Es ist nicht so, wie es aussieht.“, hörte ich ihn erklären „Wir schmusen hier nicht während der Arbeitszeit.“
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Ich ging ins Hinterzimmer, um mich umzuziehen. Das Licht war nur schummrig, da die Läden so gut wie geschlossen waren. Da ich das Zimmer fast so gut kannte wie meine eigene Wohnung, war es nicht schwer mich zurecht zu finden, auch wenn sich meine Augen noch nicht an das Licht gewöhnt hatten. Ich ging zu meiner Ecke hinüber, schlüpfte aus meinem Kapuzenpullover in meine Uniform und schon war ich wieder bei Sean im Laden vorne.
„Wo warst du überhaupt?“, fragte er mich, nach dem die Dame mit ihrem Kaffee verschwunden war, natürlich nicht ohne Sean noch einmal kritisch zu mustern. Er hatte ihr offensichtlich seinen Regenbogen-Button gezeigt, den er immer stolz irgendwo an seinem Outfit trug und den er jedem zeigte, wenn sich die Gelegenheit bot. Seans Mission war, jedem klar zu machen, dass Homosexualität etwas völlig normales und alltägliches war, nicht etwas das man nur im Fernsehen sah. Diese Mission hatte ihn schon einige Male in heikle Situationen gebracht und nicht nur einmal war er am Montag mit einem blauen Auge zur Arbeit gekommen. Trotzdem gab er nicht auf.
Ich zuckte mit den Schultern auf seine Frage und begann zu erzählen. Während meiner Geschichte war ich in Gedanken völlig wo anders. Bei Kristen. Wäre ich religiös, würde ich jetzt wahrscheinlich für sie beten oder so was. Aber ich war schon immer alles andere als religiös gewesen. Obwohl das alles wahrscheinlich viel einfacher machen würde. Man könnte immer Gott die Schuld geben. Oder darauf zählen das alles auf sein Geheiss hin wieder gut kommen würde. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es da oben im Himmel irgendjemanden gab, der über jedes einzelne Schicksal, über jeden Krieg, über jede Naturkatastrophe bestimmte. Das war doch einfach unwahrscheinlich.
„Also hattest du eben ein Date?“, fragte Sean und brachte die Frage, die ich mir auch schon gestellt hatte, dabei ziemlich auf den Punkt. „Das frage ich mich auch.“, erklärte ich ihm, „Ich weiss nicht, ob man es als Date betrachten kann. Ich meine, wir haben nicht gesagt, wir gehen jetzt zusammen aus oder so was.“ Sean sah mich leicht verwirrt an.
„Vielleicht war es für ihn nur ein Mittagessen unter Freunden?“, fügte ich hinzu und bemerkte, dass meine Stimme dabei leicht hoffnungslos klang. Sean lachte laut auf.
„Was?“, fragte ich verwirrt, „was ist so komisch?“
„So wie du das Ganze beschrieben hast, war das sicher nicht nur ein Mittagessen unter Freunden.“, erläuterte er, „ausserdem hast du gesagt, er und sein bester Freund hätten die ganze Zeit Blicke ausgetauscht?“ Er machte eine kurze Pause und ich nickte. „Und sein bester Freund hat dich immer wieder komisch angesehen?“ Ich nickte wieder. „Dann steht er bestimmt auf dich.“
Jetzt war ich nur noch verwirrter. „Wie kommst du jetzt darauf?“
„Ich kenne Jungs. Die sind in solchen Dingen genau so schlimm wie  Mädchen. Ich bin sicher, sein bester Freund checkt dich aus, um zu sehen, ob du auch wirklich gut genug bist.“, mit einem triumphierenden Blick schloss er seine Erklärung ab.
Nun war es an mir zu lachen. Diese Erklärung war so lächerlich und unwahrscheinlich, dass ich so lachen musste, dass ich nicht einmal bemerkte wie der nächste Kunde eintrat. Sean war jedoch sofort zur Stelle, um die vier Mädchen zu bedienen. An seiner Haltung bemerkte ich, dass meine Reaktion ihn mehr verletzt hatte, als er es zugeben würde. Ich kniff also meine Lippen zusammen und machte mich daran, ihre Bestellungen auszuführen. 

Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt