Kurze Zeit später sassen Taddl und ich auf den Eingangsstufen des Hauses und hauchten dampfenden Atem in die kalte Luft. Felix war wieder nach oben gegangen und liess uns jetzt ausnüchtern. Und es sah tatsächlich so aus, als würde es Wirkung zu zeigen. Das schummrige Gefühl schien nachzulassen und nach einer Weile konnte ich mich wieder auf einzelne Schneeflocken konzentrieren. Wann es allerdings zu schneien begonnen hatte, wusste ich nicht mehr. Schliesslich, nachdem der Alkohol immer mehr seiner anfänglichen Wärme verloren hatte, stand ich auf und drehte mich zu Taddl. Er sah mich mit grossen, nachdenklichen Augen an. Es war uns beiden nur all zu klar, dass dieser Moment das erste Mal seit einiger Zeit war, in dem nur wir zwei hier waren. Und uns war klar, dass wir uns verändert hatten. Wir beide. Ich will nicht lügen. Das Studium, Youtube und alles darum herum hatte auch mich nicht unberührt gelassen. Aber er war eine viel krassere Veränderung durchgegangen. Ich musterte ihn von oben bis unten. Er hatte schwarze, locker sitzende Jeans an und eines seiner geliebten Longshirts schaute aus dem unteren Teil seiner Winterjacke hervor.
Die Haare, die ich immer auf alle Seiten abstehend am meisten geliebt hatte, waren nicht mehr ihr Naturblond sondern beinahe weiss und wurden von einem Galaxy-Bandana nach hinten gehalten. Auch er betrachtete mich. Seine Augen glitzerten im Licht einer Strassenlaterne und ich musste die Tränen zurückhalten, denn diese unverwechselbaren blauen Augen zeigten mir, dass er noch immer der war, den ich liebte, auch wenn es von aussen nicht mehr so schien. Auch wenn er es vielleicht selbst vergessen hatte. Dass Ardy die gleiche Veränderung durchging und Taddl und ich beide so unglaublich wenig Zeit hatten, half natürlich nicht. Schliesslich stand Taddl auch auf und machte einen etwas unsicheren Schritt auf mich zu.
„Du hast dich verändert." Es ausgesprochen zu haben, half überhaupt nicht. Es machte es nur wahr. Er nickte und sein Blick war beinahe voller Reue. Beinahe. „Du aber auch." Auch ich nickte und lächelte ein wenig schief. Es klang, als würden wir uns nach Jahren wiedersehen.
Die Schneeflocken fielen um uns auf den Boden und begannen liegen zu bleiben. Sie setzten sich in unseren Haaren und schmolzen auf unseren Gesichtern. „Ich will ehrlich zu dir sein, Jules."
Mein Herz zog sich zusammen und mein Lächeln schwand. Das konnte nicht sein Ernst sein. Er würde mich doch jetzt nicht alleine lassen.
"Ich kann das nicht mehr." Die Worte sickerten ganz langsam zu mir durch. Als wäre mein Gehirn nicht fähig, sie zu verarbeiten. Als ich sie schliesslich doch verstanden hatte, brachte ich es eine Weile nicht über mich, ihn anzusehen. Etwas begann tief in mir zu kochen. Als ich meinen Kopf hob, sah ich direkt in seine tiefblauen Augen, die mich traurig ansahen.
"Was...", meine Stimme brach und ich musste tief schlucken, um den Kloss in meinem Hals wegzuhexen, "Warum?" Dieses eine Wort kostete beinahe mehr Überwindung, als alles was ich in diesem Leben getan hatte.Er zögerte. Ich sah es ihm an. Dass er die Antwort nicht wusste.
"Ich... Du brauchst zu viel Zeit. Ich muss mich zwischen dir und Youtube entscheiden. Du weisst, was ich wähle." Trauer und Unglauben überfluteten mich. Drohten mich zu erdrücken. Ich fixierte seine tiefblauen Augen, die mir noch immer weiche Knie bereiteten und ich spürte, wie mir heisse Tränen in die Augen stiegen. Ich liebte ihn doch noch immer! Und er mich auch, ich sah es in seinem Blick. Weshalb wollte er es dann beenden?
Seine Stimme schien zu zittern, als er es wiederholte: "Ich kann das wirklich nicht mehr." In diesem Moment verstand ich, was in mir brodelte. Wut. Heisse, lodernde Wut.
"Du kannst es nicht?" Ich lachte beinahe hysterisch auf. "Du hast ja keine Ahnung. Weisst du wieviele Male ich das Studium vernachlässigt habe, nur um spät in der Nacht noch zu dir zu kommen? Weil du am Tag schläfst! Hast du eine Ahnung, wieviele Drohungen ich in letzten halben Jahr gekriegt habe? Von deinen so genannten Fans! Wie viele Male ich mich krank geschrieben habe, wieviele Lesungen ich geschwänzt habe? Nur um bei dir zu sein! Verdammte Scheisse! Ich hab so viel aufgegeben! Und du erträgst es nicht mehr? Du? Ich hätte niemals so schnell aufgegeben. Du bist nur zu faul, um zu kämpfen, nicht wahr? Zu faul. Wie immer!" Als ich fertig war, ging mein Atem schwer.
Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. "Ich... Jules..."Meine Wut war mit meinen Worten verraucht. Ich fühlte mich leer, wackelig und unendlich niedergeschlagen. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Ich unterbrach ihn, bevor er überhaupt mehr sagen konnte.
"Vergiss es. Lass es. Es ist schon in Ordnung." Meine Stimme brach beim letzten Wort und ich wandte mich schnell ab, um zu verhindern, dass er meine Tränen sah. Bevor ich definitiv davonging, drehte ich mich noch einmal um. Sollte er doch sehen, wie sehr es mich traf. Wie sehr ich es nicht erwartet hatte. Die Tränen, die ich zu unterdrücken versucht hatte, hinterliessen jetzt feuchte Spuren auf meinen Wangen. Ich nahm alles, was ich an Entschlossenheit noch besass, zusammen und sagte leise: "Ich will einfach, dass du weisst, dass ich dich niemals zu dieser Entscheidung gezwungen hätte. Niemals." Ich schluckte schwer und musterte ihn noch ein letztes Mal, bevor ich mich mit schnellen Schritten entfernte. Ich hatte versucht, sein Bild in mir einzusaugen. Wie er da stand. Die Haare feucht vom Schnee, die Wangen von der Kälte glühend und die Augen verdächtig glitzernd, während er mich ansah. Alles was ich wollte war, mich an ihn erinnern zu können. Auch an einen Moment wie diesen. Ich sah nicht noch einmal zurück.
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Eine andere Welt ~ Eine Youtuberfanfiction (Taddl & co.)
Fiksi PenggemarNeu in Köln, 19 und ohne Job. Jules Leben steht Kopf. Und als sie dann auch noch in die Youtuber-Szene hineinrutscht, ist nichts mehr so, wie es mal war.