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„W-was hast du da eben gesagt?", stammelte er sichtlich überfordert herum. Es war nicht meine Absicht, das hier preiszugeben, es waren meine Gefühle, die mich dazu verleitet haben. Und wahrscheinlich auch der Alkohol. Aber nichtsdestotrotz war es die Wahrheit. „Du hast es genau verstanden, Niko", unterstellte ich meinem Gegenüber, „du warst doch immer derjenige, der gesagt hat, dass es zwischen uns aus ist, dass da nichts mehr läuft, hast du diese Worte jemals von mir gehört?" „Du hast gesagt, du siehst keine Zukunft mit uns", wiederholte er meine Worte von damals. Sofort stellte ich klar: „Du hast mich doch nie ausreden lassen, hast mich immer unterbrochen. Ich wollte dir nur eine Lösung vorschlagen, ich wollte, dass wir es gemeinsam schaffen. Aber wer weiß, vielleicht hast du dieses Verhalten ja auch von mir gelernt, früher waren Worte nie so dein Ding! Denk mal drüber nach..."

Ich distanzierte mich ein paar Schritte und wandte mich wieder dem Meer zu. Bin ich einen Schritt zu weit gegangen gerade?

„Du haust immer direkt ab, wenn es dir nicht passt", rief er mir nach. „Und du musst immer noch weiter diskutieren, immer noch einen draufsetzen, willst du mich hier komplett demütigen, nur zu, komm, nimm mich als Zielscheibe", reagierte ich sichtlich angefressen. Wieso hatten wir diesen scheußlichen Urlaub nicht einfach von vornherein abgesagt. Das hier führte doch sowieso zu nichts. „Du machst dich hier zum Gespött von ganz Malle, die Leute schauen schon", zickte Niko mich an. Was drehte er hier eigentlich so am Rad? „Na und?", entgegnete ich laut, „Lass sie schauen! Dann merken sie vielleicht, dass nicht ich derjenige bin, der hier überreagiert".

Niko schwieg.

„Wars das jetzt? Kein ist-doch-alles-nur-wegen-dir-so, kein ich-bin-Nikola-Bilyk-ich-lasse-mir-nichts-mehr-sagen? Gar nichts mehr?". Ich lachte kurz auf, dann lief ich weg. Ich wollte weg hier! Ich würde mir einen Flug buchen und morgen zurück nach Deutschland reisen! So hielt ich das keinen weiteren Tag mehr aus.

„Steffen!". Niko stand keuchend neben mir. „Was?", zischte ich genervt, doch was dann passierte, hätte ich mir im Leben nicht erträumen können... Niko presste mich dominant an die nächste Wand, schaute mir einmal tief in die Augen und küsste mich auf einmal völlig unerwartet. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich realisierte, was sich hier gerade abspielte, doch dann verfiel ich meinem Schwarm und konnte mich nicht mehr zurückhalten. Wild verlangend spielten unsere Zungen miteinander, es war einfach nur das Romantischste, was ich je erlebt habe. Seit Wochen habe ich nicht mehr so ein Gefühl gespürt und mir wurde mit jeder Sekunde bewusster, dass ich niemals ohne Niko leben könnte. „Ich könnte dich niemals hassen", stöhnte ich, als wir unseren Kuss kurz unterbrochen hatten. „Ich liebe dich, Steffen", schob er nach und vereinte unsere Lippen wieder miteinander. Einfach nur wow!

„Das... war schön", meinte ich, während ich weiterhin auf Wolke sieben schwebte. „Sorry wegen meinem Verhalten gerade", entschuldigte Niko sich sofort und ließ sich erleichtert in meine Arme fallen. Das hatte ich so sehr vermisst! Kurz war es still, dann sprach ich das aus, was leider unvermeidbar war: „Ich glaube, wir sollten mal dringend reden". Niko nickte leicht und meinte: „Ich glaube, da hast du Recht". Ich schlug vor, nach unten an den Strand zu gehen, da dort nicht viel los war. Wir hatten hier schon für genug Aufsehen gesorgt, aber das war mir in diesem Moment vollkommen egal. Ich griff nach seiner Hand und es fühlte sich wieder an wie früher.

Wir setzten uns auf eine Mauer, meinen Kopf hatte ich auf Nikos Brust abgelegt. „Ich glaube, wir haben viel zu klären", startete ich unser dringend notwendiges Gespräch. „Weißt du, Steffen, wir für mich gibt das alles irgendwie gar keinen Sinn... unsere ganze Geschichte", fing Niko an zu reden. „Was meinst du mit „keinen Sinn"?", fragte ich direkt nach. „Naja... plötzlich waren wir dann irgendwie zusammen, wir haben uns nie gefragt, wieso und warum und wir haben nie über unsere Gefühle geredet". Ich musste grinsen. „Über unsere Gefühle? Wirklich? Weißt du, wie schwer es früher für dich war, auch nur einen Ton herauszubekommen?", lachte ich. Niko konnte sich ein leichtes Schmunzeln ebenfalls nicht verkneifen. Verliebt blickte ich ihn an, dann kam ich wieder zum eigentlichen Thema zurück: „Ich möchte dir jetzt eine ehrliche Frage stellen". Niko presste seine Lippen zusammen und schaute mich abwartend an. „Seit wann hast du Gefühle für mich? Sei ehrlich... wann ist das losgegangen?"

Diese Frage brannte mir schon sehr lange auf der Zunge und jetzt hatte ich endlich die Gelegenheit, Antworten zu bekommen. Ich bin Nikos erste gleichgeschlechtliche Beziehung gewesen und er war meine. Wir beide wussten davor gar nicht, dass wir das Männer bevorzugen würden. Ich wollte wissen, wann es bei ihm angefangen hatte.

„Du warst schon immer mein großes Vorbild. Ich hatte schon immer Autogrammkarten und sonst noch was von dir in meinem Zimmer hängen, lange bevor ich Profihandballer war. Und als ich dann nach Kiel gewechselt bin, da ging einfach nur ein Traum für mich in Erfüllung. In meinem ersten Jahr warst du einfach immer nur derjenige, den ich angehimmelt habe als Spieler, doch seit meinem zweiten Jahr in Kiel ist das irgendwie alles anders geworden und so nach und nach war ich immer mehr an dir als Mensch interessiert und aus Interesse wurde dann eben schnell mehr. Weißt du noch unser katastrophales Trainingslager nach unserem Destaster-Spiel in Paris? Dort hatte ich meine Gefühle überhaupt nicht unter Kontrolle, kurz davor ging es los."

Puh! Das musste ich jetzt erstmal sacken lassen. Ich hatte ja mit viel gerechnet, aber diese Antwort machte mich jetzt doch ziemlich nervös. Ich hatte Niko damals geküsst! Ich! Und damals hatte ich mir noch nichts dabei gedacht... ich verstand langsam immer mehr, weshalb Niko so lange sauer auf mich war! Er hatte damals schon Gefühle für mich und ich war einfach zu blind, um das zu erkennen. Wie sollte ich mich da jetzt herausreden?

Ich war Niko eine Antwort schuldig, doch ich wusste, egal, was ich jetzt sagen würde, es würde ihn verletzten. „Ich hatte gehofft, dass es am Anfang auch nur ein Spiel für dich war", presste ich leise hervor. Nikos schockiertes Gesicht war Antwort genug. „Okay, war es wohl nicht", schob ich schlechten Gewissens hinterher. „Was meinst du mit „ein Spiel"? Hatte es etwa absolut keine Bedeutung für dich? Das... das macht mich grad total fertig". Niko wurde unruhig und ich gab alles dafür, es nicht noch schlimmer zu machen. „Es war nur am Anfang so. Ich schwöre es dir". „Wann Steffen? Wann am Anfang?", schrie er mich fast schon an. Es machte mich einfach nur fertig. Ich hatte es damals verbockt und es nicht mal gemerkt! Wie dumm konnte man nur sein?!

„Ich... ich weiß es nicht mehr genau... aber je länger ich mit Sally zusammen war, desto mehr habe ich mir gewünscht, dass du...", rechtfertigte ich mich, doch Niko unterbrach mich: „Wieso hast du mich dann während des Trainingslagers geküsst... ich... ich verstehe es nicht!". Es tat weh, diese Worte zu hören. Ich erinnerte mich an jeden einzelnen Augenblick. Das Gefühl damals hatte mich einfach überkommen. Ich konnte nichts dagegen tun. „Ich... ich weiß es nicht... es war so... der Moment... das Gewitter... ich... scheiße man", fluchte ich, weil ich mir gerade selbst eine reinschlagen hätte können. Ich fuhr mit meinen Erklärungen fort: „Irgendwann war ich dann aber so besessen von dir und Sally hat mich eh nur noch genervt und ich dachte dann eben, dass meine Gefühle verschwinden würden, wenn ich sauer auf dich wäre und nicht mit dir reden würde". „Ach, und deshalb hast du mich wochenlang ignoriert und ich war der Dumme, der nach Österreich abgehauen ist, um einen klaren Kopf zu bekommen?!", warf er mir vor. „Mir war schon bewusst, dass es nichts Familiäres war", schob ich nach, aber auch das brachte uns nicht voran, „aber das war die Phase, in der ich mich ständig mit Alfred angelegt habe und keine Motivation hatte, weiterhin Handball zu spielen. Und es wurde nicht besser, als du von einem Kurztrip in Österreich zurückgekommen bist, denn ab da hat dann auch deine Schwester mitgemischt".

Was hatte Niko denn jetzt für ein Bild von mir? Hätten wir vielleicht nicht viel eher schon mal darüber sprechen sollen? Er hatte recht. Wir waren einfach so zusammen. Von jetzt auf nachher. Ohne wieso und weshalb. Ging es damals einfach nur einen Tick zu schnell? Hätten wir uns vielleicht doch mehr Zeit lassen sollen? Wäre dann vielleicht alles anders gekommen?

Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Niko stand der Schock ins Gesicht geschrieben und ich versuchte krampfhaft, aus dieser Situation irgendwie noch glimpflich herauszukommen. Aber ich fand keine Lösung.

„Ich komm nicht auf die Tatsache klar, dass du einfach nur mit mir gespielt hast", murmelte Niko nach einer Weile. Wir saßen noch immer reglos nebeneinander und beobachten die vereinzelten Leute, die hier noch herumliefen. „Ich hätte es wissen müssen, dass du... naja, dass du mich schon damals geliebt hast. Es waren doch so viele Anzeichen", sagte ich deprimiert. Eine Sache hatte ich Niko noch verschwiegen, weil es mir wirklich peinlich war, doch jetzt waren wir sowieso bei der Wahrheit. „Das Schlimme ist ja, dass es erst Disse war, der mich auf den Gedanken gebracht hat mit uns. Es klingt jetzt vielleicht blöd, aber im Nachhinein bin ich ihm irgendwie dankbar", lächelte ich leicht. „Ja, das klingt echt doof, aber das macht die Sache für mich auch nicht besser".

Es war das erste Mal, dass er mir wieder in die Augen schaute. Sein Blick war leer und ratlos. „Ich weiß", erwiderte ich still und unser Schweigen setzte sich fort. 

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt