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„Ja, und jetzt geh endlich", teilte er mir mit. Ich setzte mich neben ihn. Mir war es egal, dass er mich nicht hierhaben wollte, aber ich machte mir wirklich Sorgen um meinen Freund. „Disse, bitte", startete ich einen neuen Versuch und diesmal schien er doch reden zu wollen. Seine Sturheit hatte schließlich auch Grenzen. „Gestern hat Alfred mit mir gesprochen, er meinte, ich muss mehr Leistung bringen und ich kann nicht ständig alles auf meine Verletzungen schieben", erzählte er kleinlaut. So kannte man ihn sonst gar nicht. „Du bist doch wieder fit, du bist engagiert im Training", überlegte ich. Disse unterbrach: „Für Alfred scheinbar nicht... er meint, ich trainiere nicht gut und das macht mich fertig. Ich versuche doch, mein Bestes zu geben, aber das reicht ihm wohl nicht aus". So mitgenommen hatte ich Disse selten erlebt. „Und jetzt?", wollte ich wissen. „Vorher hat Alfred nochmal mit mir geredet. Bevor wir losgefahren sind. Er hat mir zwei Möglichkeiten gelassen, entweder hänge ich mich jetzt voll rein oder ich wechsle den Verein... und selbst wenn ich hierbleibe kann er mir nicht mal versprechen, dass ich spielen werden. Wir haben noch Lukas und Niko und die sind halt beide einfach bockstark". „Aber wo willst du denn hingehen?", fragte ich schockiert. „Da gibt's ne Option, ich kann grad aber noch nicht mit dir drüber sprechen... ach Raffi, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll", wimmerte er. Jetzt tat er mir wirklich leid. Ich war selbst unschlüssig und wusste keinen angemessenen Ratschlag. Disse ergänzte: „Mir fehlt es einfach an Praxiserfahrung und an Selbstvertrauen. Ich habe nach diesem Gespräch auch einfach das Gefühl, dass Alfred nicht zu 100% hinter mir steht und das macht es nicht leichter". „Ich kann dich verstehen. Ich denke, du solltest jetzt mal alle Optionen abwägen und dann eine Entscheidung treffen, die für dich persönlich am besten ist. Sportlich und menschlich", riet ich.

Ich ließ Disse wieder alleine und ging zu den anderen Jungs zurück. „Was ist los?", fragte Niko sofort neugierig, doch ich meinte nur, dass ich später mit ihm reden würde. Das musste jetzt nicht gleich der ganze Bus mitbekommen. Nachdenklich setzte ich mich an meinen Fensterplatz und sah die Landschaft an mir vorbeiziehen. Ich musste an Disse und sein Dilemma denken, ich überlegte, was ich in seiner Lage machen würde, aber mir fiel nichts ein. Als wir zurück in Kiel waren, war er bereits dunkel. Niko, Lukas und ich fuhren wieder zusammen zurück und diesmal wusste ich, dass wir uns nicht zurückhalten oder verstecken mussten. Lukas wusste von uns Bescheid und schien sich sehr für uns zu freuen. Niko meinte, er wäre unser „größter Fan".

Als unser schwedischer Teamkollege ausgestiegen war, erzählte ich Niko von den Vorkommnissen im Bus und von Disses Situation. „Oh man, jetzt tut er mir schon irgendwie leid", meinte er. „Glaub mir, mir tut er auch leid, auch wenn er die größte Nervensäge der Welt ist – ohne ihn fehlt was in Kiel", sagte ich und das war ernstgemeint. Wir beide hatten unsere Differenzen, aber ich schätzte ihn als Mensch und als Freund wirklich sehr. Niko und ich redeten auf der Fahrt nicht mehr sonderlich viel. Ich musste ständig an Disse denken und auch Niko nahm das sichtlich mit.

Wir beide kamen am nächsten Tag wieder zusammen an der Trainingshalle an. Während ich aber direkt in die Halle lief, machte Niko noch einen Abstecher über die Kabinen. Wir waren skeptisch, ob es zu auffällig wäre, wenn wir ab sofort immer zusammen ankommen würden. Doch heute war diese Sorge umsonst, denn ein anderer Mann stand im Fokus und sorgte für reichlich Aufmerksamkeit. Es handelte sich um niemand Geringeren als Dener Jaanimaa, unser Ex-Kieler, Disse-Verschnitt und Vollchaot. Alfreds schräger Blick sagte ebenfalls mehr als tausend Worte. „Moin ihr", grinste er in die Runde. „Was machst du hier?", fragte ich sichtlich irritiert, bekam allerdings keine Antwort. Entweder hatte er meine Frage nicht gehört oder sie einfach nicht verstanden – bei ihm war alles möglich. Dann kam Disse in die Halle – ohne Trainingsklamotten. Seine Augenringe waren nicht zu übersehen und auch sein Blick verriet nichts Gutes. „Hat der überhaupt geschlafen?", raunte Niko mir zu. „So scheiße wie der aussieht, nicht". Ich hatte eine böse Vorahnung, schaute mir aber erstmal das Spektakel an, das sich hier vor meinen Augen abspielte: „Brudiiiii, wir haben uns nie gesehen!". Dener rannte auf seinen Buddy zu und fiel ihm freudestrahlend um den Hals, sodass beide auf dem Boden landeten. Die beiden wälzten sich auf der Mittellinie herum und verhielten sich so als gäbe es kein Morgen mehr.

„Jungs, kommt mal zusammen, Disse muss euch was verkünden, wir fangen ein paar Minuten später mit dem Training an", mischte sich unser Coach nun ein, doch Angesprochener schien das nicht sonderlich zu kümmern. Er rollte weiter mit Dener auf dem Boden herum. Alfred machte nochmals stärker auf sich aufmerksam und so langsam machten die beiden mal Anstalten, zu uns dazuzustoßen. „Dener", begann unser Trainer, „Dürfte ich wissen, wieso wir die Ehre mit dir heute haben? Habt ihr kein Training?". Das war eine sehr gute Frage, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Melsunger Team in dieser Phase der Saison einen freien Tag genießen durfte. „Doch, doch, immer Training", verdeutlichte Disses Freund in gebrochenem Deutsch, „Ich aber habe gesagt: Trainer, ich bin tot von Wochenende, ich kann nicht Training kommen, dann er hat gesagt: Gut Dener, du dann nicht kommst, du kommst Dienstag wieder, ich gesagt: Nein". Er war definitiv eine Liga für sich! „Und was machst du dann hier?", wollte Marko schließlich wissen. „Ich bin Disse hier um zu fliegen zu Skopje und Wohnung weg".

Ich glaube, ich war der einzige hier in der Halle, der mit dieser schrägen Antwort etwas anfangen konnte. Alle anderen waren planlos und so hatte Disse sich seine Verkündung vom Wechsel sicherlich nicht vorgestellt. Schockiert suchte ich nach Nikos Blick: „Disse wechselt nach Skopje?". Er zuckte mit den Schultern, das Getuschel wurde größer. Rune schien von Disses Wechsel zu wissen. Er nickte mir zu. Dener startete unterdessen einen weiteren Erklärungsversuch: „Disse nicht hier spielen viel, lieben euch alle, lieben vor allem mich. Mich deshalb angerufen: Brudi kannst du helfen, ich wechseln zu Mazedonien, ich Hilfe brauchen. Ich gesagt: Natürlich, ich immer für dich da bin und ich mir sicher, du wirst gefallen neue Land und neue Handball".

So langsam schienen die ersten zu ahnen, was hier vor sich ging und schließlich klärte Disse die Verwirrung persönlich auf: „Ja, also wegen dem bin ich auch hier. Ich werde zu Vardar Skopje wechseln mit sofortiger Wirkung". Er nannte die Gründe für seine Entscheidung, aber diese waren mir ja bereits bekannt. „Ich finde es trotzdem total schade, von Kiel wegzugehen, euch zurückzulassen und mir ist die Entscheidung wirklich nicht einfach gefallen, aber ich glaube wirklich, dass es das beste für mich ist", ergänzte er. Dener hatte ihm wohl angeboten, beim Umzug zu helfen.

Rune fiel seinem Freund sofort um den Hals: „Ich werde dich so vermissen, meld' dich bitte so oft es geht, du fehlst mir jetzt schon". Niko und ich gingen nun auch zu ihm. „Viel Erfolg, ich hoffe, dass es dir dort besser geht und ich freue mich, wenn wir uns bei Champions League Spielen wiedersehen werden". Natürlich musste er noch einen Schwulenkommentar loswerden, doch da konnten wir gerade noch so drüberstehen. „Vielleicht seid ihr ja verheiratet, wenn ich euch das nächste Mal wiedersehe. Hab euch ganz doll lieb", schob er noch hinterher und drückte uns beiden einen Kuss auf die Wange. Dieser Junge...

„Vielleicht werde ich ihn doch nicht so vermissen", lachte ich als ich wieder mit Niko alleine dastand. Disse verabschiedete sich gerade vom Rest der Mannschaft und nachdem er mit Dener die Halle verlassen hatte, ging es wirklich los mit Training.

„Vapiano steht nachher?", wollte Lukas sicherheitshalber nochmal wissen. Das hatte ich bei der Aufregung und dem Stress fast schon wieder vergessen. „Ja, klar", lächelte Niko. „Gisli kommt auch mit, wenn es euch nicht stört". „Nein, kein Problem, natürlich kann er mitkommen", lächelte ich. Ich war einfach nur froh, dass Lukas von Niko und mir als Paar so begeistert war. Die beiden verstanden sich ja mittlerweile ohnehin blendend, sodass es kein Thema für mich war, ein gemeinsames Mittagessen einzuwilligen. Niko und ich wollten direkt von der Halle in die Stadt fahren, da das Training aber schon um halb elf aus war, mussten wir uns besonders viel Zeit lassen. So blieben wir am Ende noch eine Weile in der Halle, übten ein paar Trickwürfe und gingen dann erst später in die Kabine zum Duschen. Ein paar Jungs waren noch da, aber es dauerte nicht lange, da waren Niko und ich alleine. Sofort nachdem Dule und Marko aus der Kabine waren, ging ich auf meinen Freund zu und setzte mich neben ihn. Ich löste das Tape von meinen Fingern, schmiss es in den Müll, dann stellte ich mich dicht neben Niko und wartete auf seine Reaktion. Sein Atem wurde schneller, er legte seinen Kopf zur Seite, sodass ich freien Zugang zu seinem Hals hatte. Mit einer geschickten Bewegung drehte ich ihn zu mir und küsste ihn richtig. Mit seiner Hand fuhr er unter mein verschwitztes T-Shirt und zog es mir über den Kopf. Wenn jetzt jemand reinkommen würde... All unsere Klamotten lagen mittlerweile quer verteilt auf dem Boden, aber wir dachten keine Sekunde daran, diesen Kuss zu unterbrechen. Zusammen torkelten wir in den Duschraum, den wir nun das allererste Mal für uns alleine hatten.

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt