..45..

103 5 2
                                    

Mittags trafen wir uns alle wieder, um gemeinsam zu essen und verteilten uns an den freien Tischen im Schwimmbad. Jeder erzählte etwas von seinem Tag, Niclas schwärmte bei unserem Trainer gleich von seiner neuen Freundin. „Die wirst die vergessen, oder?", lachte ich deshalb. „Nö, und ich schwöre dir, ich werde sie wiedersehen". Er war echt verliebt! Apropos verliebt – Niko wirkte ziemlich grimmig. Ich folgte seinem Blick und sah, dass er zum Tisch seiner Schwester schaute. Diese wurde gerade von Christian Dissinger gefüttert und das schien Niko gar nicht zu passen. Seine Hand lag flach auf dem Tisch, ich legte meine darüber. „Disse ist ein Idiot", stellte ich klar und ließ ihn wieder los. Ich konnte jetzt schlecht händchenhaltend mit ihm am Tisch sitzen, wo Alfred keine zwei Meter von uns entfernt war. Er zuckte zusammen und in mir löste diese Berührung ein wohliges Kribbeln aus. Jetzt war ich selbst wieder neben der Spur. So schnell konnte es gehen...

„So Jungs, jetzt wird Wasserball gespielt", verkündete unser Trainer sofort nachdem er aufgegessen hatte. Die Hälfte von uns hatte immer noch einen vollen Teller. „Jetzt lass uns alle erstmal in Ruhe ausessen, Trainer, dann halbe Stunde Pause, dann können wir spielen. Ist nicht gesund, direkt nach dem Essen ins Wasser zu gehen", regelte Andi. „Stellt euch nicht so an", lachte Alfred herzhaft und ich überlegte echt, ob er heute ein anderer Mensch geworden war. „Wir sind noch aktive Spieler, riskiere lieber nicht deine ganze Mannschaft, sonst musst du selbst gegen Flensburg und die anderen spielen", stichelte unser Torhüter weiter. Aber prinzipiell hatte er ja recht und niemand widersprach ihm.

„Team Dule und Team Alfred beginnt", bestimmte unser Coach. „Na dann". Dule warf mir vielsagende Blicke zu, als wir uns alle im Wasser versammelten. Nikos Schwester hatte die Ehre, den Ball reinzuschmeißen. Sie hatte sich ziemlich schnell zu Alfreds neuem Liebling entwickelt. Niko schien das gar nicht zu passen, genauso wenig, wie dass Disse nicht die Finger von ihr lassen konnte. Mein Schwarm schien jede Minute mehr zu verzweifeln und das machte mich ziemlich nachdenklich. Irgendwie musste ich ihm doch zeigen, dass ich für ihn da war, dass ich ihn gerne hatte, dass es mehr zwischen uns war.

Nach einer Weile standen wir etwas abseits von den anderen im Wasser. Miha passte Niko den Ball, dieser versuchte weiterzuschwimmen, doch ich hielt ihn davon ab, indem ich mit meiner Hand um seine Hüfte griff. Ganz bewusst. Ich lachte und versuchte ihm den Ball abzunehmen, er wehrte sich anfangs allerdings erfolgreich dagegen, sodass ich zu anderen Mitteln greifen musste. Als er nicht damit rechnete, tunkte ich ihn unter Wasser, wartete einige Sekunden und konnte ihm den Ball mühelos wegschnappen. Ich tauchte ebenfalls kurz unter, schaute, ob Niko noch atmete und tauchte mit ihm gemeinsam wieder auf. Sofort spielte ich den Ball zu Andi weiter, sodass wir nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Niko keuchte, atmete mehrmals tief durch und hustete einmal. Einen kurzen Moment schloss er seine Augen, ich beobachtete jede seiner Bewegungen, konnte den Blick nicht von ihm nehmen. Dann öffnete er sie wieder und starrte mich ebenfalls an. Und da war er! Dieser eine Moment. Dieser eine besondere Moment, der sich nicht in Worte fassen ließ. Alles fühlte sich richtig an. Ja, es war eine Kurzschlussreaktion, aber es war die beste Entscheidung, die ich seit langem wieder getroffen hatte.

Erneut zog ich uns beide unter Wasser, hielt dabei immer noch Nikos Hand. Ich öffnete meine Augen, sah verschwommen, wie Niko ziemlich herumzappelte im Wasser. Er wirkte extrem unruhig. Viel Luft hatte ich nicht mehr übrig, das Kribbeln und die Aufregung sorgten dafür, dass sie mir schneller ausging. Doch die letzten Sekunden wollte ich ausnutzen. Ich zog ihn zu mir heran, drückte stärker seine Hand zu. Seine Augen waren weiterhin geschlossen. Vorsichtig näherte ich mich seinen Lippen und schließlich küsste ich ihn.

Das Gefühl war überwältigend, einzigartig, kaum in Worte zu fassen. In diesem Moment wusste ich, dass es das ist, was ich will, dass er der Eine ist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Wir tauchten beide wieder auf, völlig abgedriftet von der Realität. Doch genau diese holte mich in einem Schlag wieder ein! Sally! Ich hatte fremdgeküsst. Noch nie hatte ich eine Frau betrogen. Insbesondere nicht mit einem Mann!

Niko wirkte wie paralysiert, auch er hatte eine Freundin! Was hatte ich denn bloß angerichtet?! „Sorry". Dieses Wort war das einzige, was ich in diesem Moment noch hervorbrachte und ich will gar nicht wissen, wie es bei ihm angekommen war. Ich musste mich von ihm fernhalten – es würde wieder passieren... es durfte nicht wieder passieren... nicht so lange er und ich in einer festen Beziehung waren!

Das Spiel wurde beendet und ich ergriff sofort die Flucht. Mein Team schien gar nicht zu merken, dass ich nicht mehr mit von der Partie war, aber es musste sein! Ich brauchte Zeit für mich, um den Kopf freizubekommen und schwamm nach draußen. Das heiße Wasser tat in diesem Moment gut. Ich atmete tief durch und lehnte mich dann mit dem Rücken an den Beckenrand.

Sollte ich Sally erzählen, was heute passiert war? Ich hielt es nicht für eine besonders gute Idee, schließlich müsste ich ihr im gleichen Zug erzählen, dass ich jemand Gleichgeschlechtliches geküsst hatte und heute war definitiv nicht der Tag, um mich zu outen. Outete ich mich überhaupt? Niko war der einzige Mann, der mich sexuell in irgendeiner Art und Weise anzog, alle anderen interessierten mich nicht und ich dachte auch noch nie darüber nach, fremde Männer abzuknutschen. Ich war hetereo, mit der Ausnahme von Niko. Also irgendwie bi. Aber trotzdem mehr hetero.

Irgendwann verstand ich mich selbst nicht mehr, tauchte meinen Kopf ins Wasser und stellte mir sofort wieder vor, dass Niko unter Wasser vor mir stehen würde, unruhig und ein wenig verängstigt und wir uns küssen würden. Leider musste ich feststellen, dass dies nicht so war. Ich war noch immer allein und daran änderte sich so schnell auch nichts mehr. Gegen später traf ich auf Niklas und Bammbamm, mit denen ich die letzte Stunde noch verbrachte. Wir gingen schließlich duschen und trafen uns alle vor dem Bad wieder. Der Mannschafsbus stand auch schon bereit und wir konnten einsteigen. Der Plan war noch in die Stadt zu fahren, etwas durch die Gegend zu laufen und schließlich gemeinsam essen zu gehen. Niko war noch nicht da und das war auch gut so, denn so musste ich beim Betreten des Busses nicht an ihm vorbeilaufen. Ich konnte einfach nicht mehr in seine Augen sehen, ich hatte es vermasselt!

Rune schaute mich skeptisch an, als er den Platz neben mir einnahm. Er war zusammen mit Niko gekommen, dieser setzte sich sofort auf seinen Platz, ohne auch nur einmal nach links oder rechts zu schauen. „Alles gut mir dir, Raffi?", fragte mein bester Freund nach einer Weile. „Ja, alles gut", winkte ich ab. Doch nichts war gut! Absolut gar nichts! Ich konnte meinen Blick nicht von Niko abwenden und mich überfluteten tausende Gedanken. Nur zu gerne würde ich wissen, was in seinem Kopf vorging.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Alfred hatte ausnahmsweise mal keinen konkreten Plan, sodass wir unbeholfen in der Gegend herumliefen und schließlich nicht mehr das Restaurant fanden, wo wir essen wollten. Aus irgendeinem Grund waren wir in der anderen Ecke der Stadt gelandet und kamen deshalb auch eine Viertelstunde später als geplant an. Die Kellner schienen nicht so begeistert sein, einer identifizierte uns aber als THW Kiel, danach hatten wir wieder bessere Karten dort. Der Abend war wirklich noch sehr lustig. Zu Niko hielt ich den größtmöglichen Abstand: er saß am einen Ende, ich am anderen.

Erst spät abends waren wir wieder zurück in der Landeshauptstadt und auch dort ergriff ich gleich wieder die Flucht und fuhr zu mir nach Hause. Alles war still. Ich wusste nicht, ob Sally bei mir war, schien sie aber nicht zu sein. Auch als ich das Schlafzimmer betrat war es leer, also machte ich mich schnell im Bad fertig und legte mich gleich schlafen.

Am nächsten Morgen hatte ich eine Nachricht von meiner Freundin:

Sally: Hey du ♥ hoffe, ihr hattet einen schönen Tag gestern♥ wann trainierst du heute? Würde dich danach abholen kommen, dann können wir was zusammen machen♥

Steffen: War schön gestern 😊 haben um zehn Training, bis ich fertig mit duschen bin sollte es zwölf sein

Sally: Oki♥ dann komme ich um zwölf♥♥

Sally: Ich liebe dich♥

Steffen: Bis später

Ich fühlte mich noch immer schlecht wegen gestern. Das ganze Training über war ich unkonzentriert, vermied die Nähe zu Niko und schaute gefühlt jede Minute auf die Uhr. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich Sally nicht besser von gestern erzählen sollte... ich wusste nicht, ob es was Ernstes war. Es fühlte sich so echt an, aber zur wahren Liebe gehören nun mal immer zwei Seiten. Diese zweite Seite konnte ich Sally vermutlich nicht geben, aber ich konnte sie auch nicht einfach so aufgeben. Niko würde es mit Mara genauso wenig machen. Ab sofort war Niko für mich tabu! Ich würde Abstand halten und nur das Nötigste mit ihm reden, ich wäre nett, aber nicht anhänglich und vor allem würde ich eins tun: Ihn nicht mehr einfach so küssen! Es schien die letzte Möglichkeit zu sein, mich von meinen Gefühlen zu lösen und Niko ein für alle Mal zu vergessen!

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt