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In der Nacht hatte ich satte drei Stunden Schlaf. Dann klingelte schon wieder mein Wecker und ich musste aufstehen. Dementsprechend schlecht war auch meine Laune, obwohl man sich auf Urlaub ja normalerweise freuen sollte. Mürrisch lud ich meine Taschen ins Auto und fuhr zum abgemachten Treffpunkt. Niko hatte angeboten, nach Hamburg zu fahren. Begrüßt hatten wir beide uns eigentlich gar nicht. Ich stieg sofort hinten auf den Rücksitz ein, was aber auch daran lag, dass Disse sich bereits den Beifahrersitz gesichert und mich bei der Ankunft schon siegessicher angegrinst hatte. Rune kam zu spät, er wirkte genauso unausgeschlafen wie ich und das beruhigte mich etwas. Er schlief auch auf der Fahrt ein. Ich hingegen bekam so im Halbschlaf mit, wie Disse pausenlos seine Lebensgeschichten erzählte.

Am Flughafen war die Stimmung ganz komisch, Disse hatte aufgehört zu reden und darum sagte niemand mehr etwas. Vielleicht waren wir auch alle übermüdet, aber ich interpretierte sie Situation doch etwas anders. Zu Niko hielt ich weiterhin den größtmöglichen Abstand. Im Flugzeug saßen wir alle verstreut, so konnte ich aber meine Kopfhörer aufsetzen und Musik hören. Schlafen war nicht möglich. Zu viele Gedanken...

Vormittags landeten wir in Palma de Mallorca und warteten auf den Bus, der uns zum Haus bringen sollte. Gerade redeten Rune und Disse darüber, wie wir es heute Abend mit dem Essen machen sollten. „Essen gehen!", meinte Christian kühl. Meine Laune hatte sich keineswegs gebessert und so konnte ich mir auch die folgende Aussage nicht verkneifen: „Och ne, da müssen wir uns ja wieder anziehen und einen auf glücklichen Urlauber tun". Rune wurde daraufhin etwas säuerlich und sprach uns auf unsere miese Laune an: „Was ist heute eigentlich mit euch allen los? Leute... wir sind im Urlaub, lächelt mal ein bisschen und rennt hier nicht rum wie sieben Tage Regenwetter. Das ist echt peinlich!". Disse äffte seinen Freund nach, doch in diesem Moment fuhr unser Bus daher und setzte dem Gespräch ein Ende.

Auch im Bus hatte ich keine Lust auf irgendwelche Unterhaltungen und so bevorzugte ich ein weiteres Mal meinen Kopfhörer und meine Musik. Wenigstens das brachte mich gedanklich in eine andere Welt... eine bessere Welt.

Ich stieg als erstes aus dem Bus aus. „Da geht's zum Reisebüro, habe gerade schon nachgeschaut", verkündete ich, als die anderen drei ziemlich planlos in der Gegend herumschauten. Ich lief vor, Rune und Disse ein paar Schritte hinter mir, ganz abgeschlagen hinten lief Niko alleine – ich glaube, er telefonierte.

„Buenos días, hemos reservado una casa aquí, somos de Alemania, el nombre es Dissinger", sagte ich und packte im Reisebüro meine übrig gebliebenen Spanischskills aus meiner Schulzeit aus. Es stellte sich heraus, dass die Frau dort exzellent Deutsch sprach – hätte ich mir auf Mallorca eigentlich auch fast denken können – jedenfalls lachten mich die anderen nun aus und das nervte noch mehr. Und ich war doch so stolz auf diesen Satz, den ich den ganzen Weg hierher schon geübt hatte...

Die Frau begleitete uns zu dem Haus und wir staunten alle nicht schlecht, als wir dort ankamen. „Hammer, mega schön", strahlte Rune und Disse sprang wie ein kleines Kind in der Gegend herum. Niko machte sofort einige Bilder und wirkte ebenfalls glücklich. Auch ich konnte mir wieder ein kleines Lächeln aufzwingen. Hier ließ es sich aushalten, selbst wenn die persönlichen Umstände nicht so berauschend waren. Es hatte genug Zimmer, jeder von uns bekam sein eigenes und das war mir wirklich mehr als recht. Die Aufteilung verlief problemlos und ich verzog mich sofort in mein eigenes Reich, richtete meinen Schrank ein und stellte das WLAN an meinem Handy und dem Laptop ein. Mein Zimmer lag als einziges im Erdgeschoss, so hatte ich schon meine Privatsphäre.

Ich hörte die anderen, wie sie im Pool Spaß hatten. Ein paar Mal war ich kurz davor, auch rauszugehen, dann machte ich aber doch wieder einen Rückzieher. Außerdem schlief ich hier fast ein.

„Hey Steffen, kann ich kurz reinkommen?". Es klopfte an der Tür. Der Stimme nach zu urteilen war es Rune und ich hoffte, dass er ohne Gefolge dastand. „Ja", meinte ich knapp und richtete mich auf. „Mach mal das Fenster hier auf, hier ist echt schlechte Luft", kommentierte er als erstes und schloss die Türe hinter sich. „Was gibt's?", wollte ich wissen. „Wir wollen einkaufen gehen, willst du mitkommen?". Ich seufzte laut. War das Antwort genug. „Ist gut, wollte nur fragen, nicht dass es am Ende dann heißt, wir hätten dir nicht Bescheid gegeben", meinte er etwas niedergeschlagen. „Sorry, ich bin echt müde und... egal, kauft einfach alles ein, sagt mir dann, was ihr von mir kriegt". „Klar... dann gehen wir mal, keine Ahnung, wann wir wieder zurück sind... vielleicht kannst dich dann heute Abend aber auch mal bei uns blicken lassen... wäre wirklich schön". Rune versuchte wirklich, ruhig zu bleiben und wählte seine Worte bewusst. Dafür war ich ihm sehr dankbar. Ich wollte in meiner jetzigen Situation wirklich nicht angeschrien werden.

Als die Jungs weg waren, erkundete ich ebenfalls mal das ganze Haus, schaute mir die anderen Zimmer an und drehte eine Runde im Pool. Es war wirklich schön hier. Das musste ich zugeben.

Danach siegte aber wirklich die Müdigkeit über mich und so kam es dazu, dass ich um siebzehn Uhr einschlief. Die ganzen Reisestrapazen trugen sicherlich auch einen Teil dazu bei, dass ich so fertig war, aber das war mir in dem Moment alles egal. Ich hatte wirklich Schlafmangel und den versuchte ich jetzt zu kompensieren.

...

„Ist es dein scheiß Ernst, dass du jetzt hier pennst?". Unsanft wurde ich aus dem Schlaf gerissen und wieder war es Rune, der vor mir stand. Das Licht war viel zu hell. „Dir würde echt nicht einfallen, dich mal bei uns blicken zu lassen, den ganzen Tag hockst du nur hier rum und jetzt, wo wir alle zusammen essen, fällt dir ein, dass du mal schlafen könntest... was ist denn nur los mit dir? Wo ist der Steffen, der mit mir zusammen beim geilsten Club der Welt spielt?". Seine Stimme war ruhig, er riss sich wirklich zusammen. Schon wieder. Und ich konnte nicht anders, als ihn weiterhin anzuschweigen. „Schau mal", startete Rune einen neuen Versuch, „mir ist es egal, ob du schlecht drauf bist oder sonst irgendwas, aber du versaust uns allen hier gerade echt den Urlaub! Entweder änderst du deinen miesen Gesichtsausdruck oder du kannst morgen direkt wieder nach Hause fliegen. Wir haben wirklich keine Lust, uns von dir die Laune verderben zu lassen". Ich stand auf, lief zum Fenster und starrte nach draußen. Zu sehen war ein wunderschöner Sonnenuntergang. Vor mir sah alles friedlich aus, hinter mir entwickelte sich gerade eine Furie. Und das schlimmste an der ganzen Sache: Ich konnte es Rune nicht mal verübeln.

„Warum redest du nicht mal mehr mit deinem besten Freund?". Jetzt wurde seine Stimme lauter – irgendwie ja verständlich. „Sag mir endlich, was mit dir los ist, Raffi, ich kann das echt nicht mehr mitansehen!". Ich ließ mein Kopf in den Nacken fallen. „Ich kann nicht". Das waren die einzigen Worte, die ich in dieser Situation noch herausbrachte. „Ich habe dir eine Chance gegeben, aber ich will mit jemanden wie dir echt nicht den Urlaub zusammen verbringen... sorry, Bro!".

Enttäuscht verließ Rune den Raum, immerhin hatte er mir eine Portion Spaghetti Bolognese dagelassen. Ich war verletzt. Mein bester Freund war sauer auf mich und er hatte wohl allen Grund dazu. Wieso habe ich meinen verdammten Mund nicht aufbekommen? Ich hätte ihm irgendwas erzählen können – aber nein, ich habe mich für die Variante Schweigen entschieden!

Was war nur los mit mir?

Völlig verzweifelt packte ich meinen Laptop aus und rief Mariya via Skype an. Sie war die Einzige, die mir jetzt noch helfen konnte. „Was gibt's?", meldete sie sich. „Ich kann nicht mehr", jammerte ich und sie merkte gleich, dass es mir nicht gutging, dass ich dem Druck bereits nach wenigen Stunden nicht mehr standhalten konnte.

„Ich wünschte mir so sehr, dass du hier wärst", meinte ich, nachdem wir schon eine Weile telefoniert hatten. „Lässt sich da nichts organisieren?", fragte sie mir einem hinterlistigen Lächeln nach. „Ich organisiere da sicher nichts... ich habe schon für genug Aufmerksamkeit gesorgt", stellte ich sofort klar. „Dann überlass es mir... ich habe da so meine Connections", grinste sie. „Sag doch einfach, du hast deinen Bruder". „Nö, den meine ich gar nicht", klärte Mariya mich auf, „ich bin sauer auf Niko. Das soll er auch ruhig spüren. Ich denke da eher an Dissi". „Dissi, ernsthaft?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen nach. „Vertrau mir einfach, muss jetzt aber Schluss machen, hab dich lieb!". Ich musste automatisch lachen. „Ich dich auch!", verabschiedete ich mich und mein Lächeln blieb. Das erste Mal am Tag.

Jetzt war ich auch dazu bereit, meine Nudeln zu essen, auch wenn diese schon kalt waren. Ich ließ nebenher meine Serie am Laptop laufen, denn ich hatte beschlossen, mich heute definitiv nicht mehr bei den anderen blicken zu lassen. Vielleicht müssten wir alle einfach eine Nacht drüber schlafen und morgen würde die Welt dann ganz anders aussehen. Das hoffte ich jedenfalls. Einmal musste ich allerdings nochmal mein Zimmer verlassen, um auf die Toilette zu gehen und mir die Zähne zu putzen. Währenddessen versuchte ich aber die anderen nicht zu beachten und danach verzog ich mich sofort wieder in mein Bett und schlief an diesem Abend auch verhältnismäßig sehr früh ein.

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt