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„Hör auf so zu denken", machte ich ihm klar. Ich hatte mich mittlerweile neben ihn gesetzt und meine Hand wie selbstverständlich auf seine gelegt. Er wehrte sich nicht dagegen, weshalb ich davon ausging, dass es okay für ihn wäre. „Deine Schwester hat doch keine Ahnung, was sie an dir hat", erklärte ich, „ohne dich wäre sie doch schon längst auf dem Boden gelandet. Du warst derjenige, der ihr klargemacht hat, was Familie bedeutet, ohne dich wäre sie doch schon längst von zu Hause abgehauen". Ich musste zugeben, Mariya war nicht immer einfach, aber die letzten Monate haben mir bewiesen, wie stark sie doch an ihrem großen Bruder hing. Die Sache mit der Trennung wirkte sich diesbezüglich leider negativ aus. Niko nickte. Er wusste, dass ich Recht hatte.

„Was denn bei euch für ne miese Laune?". Rune kam zu uns in die Küche und schaute uns skeptisch an. Schnell hatte ich noch meine Hand zurückgezogen, aber Runes Blicken nach zu urteilen, hatte er das bereits realisiert. Ihm konnte ich einfach nichts vormachen. Er merkte, dass er zu einem unangemessenen Zeitpunkt erschienen war, füllte nur schnell sein Glas und ging wieder davon.

„Komm, machen wir das Essen fertig, ich habe echt Hunger", lenkte ich ab. Niko deckte den Tisch, ich verteilte die Töpfe und Pfannen auf dem Tisch, sodass sich jeder etwas nehmen konnte. Während des Essens beobachtete ich Mariya etwas genauer und musste zugeben, dass da ein anderes Mädchen saß als das, was ich vor einer Woche noch getroffen hatte. Sie war hier ein völlig anderer Mensch und Disse schmachtete sie an als würde er gleich über sie herfallen. Ich warf Niko aufmunternde Blicke zu. Er sah aus als würde er am liebsten auf der Stelle im Erdboden versinken. Er schämte sich für seine Schwester, das war nicht zu übersehen.

Luca und Rune erledigten den Abwasch, gleichzeitig tollten Disse und Mariya im Garten herum. Eigentlich sollten sie alles für unsere Gäste vorbereiten, danach sah das aber wirklich nicht aus. Ich schlich mich an Niko heran und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Er beobachtete das Spektakel schon eine Weile und Begeisterung sah anders bei ihm aus. „Ich gehe mal zu den beiden raus und helfe", machte ich den Vorschlag und sah, wie er erleichtert ausatmete. Vielleicht hatte ich so auch mal die Gelegenheit, mit Mariya zu sprechen, denn so konnte das wirklich nicht weitergehen.

„Ihr sollt sauber machen und nicht noch mehr Dreck verursachen!", rief ich den zwei zu. Erschrocken fuhren sie auseinander und schauten mich liebevoll an. Ach herrje, auf was hatte ich mich da nur eingelassen? Widerwillig packten die beiden mit an. Ich näherte mich Nikos Schwester und nutzte die Gelegenheit, als Disse gerade auf der anderen Seite bei den Liegen beschäftigt war. „Hey!", meinte ich nochmals zu Mariya. „Hi Steffen", grinste sie und wirkte zufrieden. Eigentlich wollte ich ein paar Sachen loswerden, doch das Ganze endete eher in einem Smalltalk, in den sich Disse kurz darauf einmischte.

Als wir alles vorbereitet hatten gingen wir wieder nach innen, um uns frisch zu machen und uns neue Klamotten anzuziehen. Mariya hatte sich zu meinem Erstaunen bei ihrem Bruder einquartiert und war gerade auf dem Weg zu ihm. Ich lief hinterher. Ich musste einfach wissen, ob die beiden endlich mal miteinander redeten. Man sollte andere Leute zwar nicht belauschen, aber wenn sie davon nichts mitbekämen, dann wäre es ja egal.

„Was ist eigentlich los, Mariya?", vernahm ich die Stimme meines Ex-Freundes, „Du verhältst dich hier wie das letzte Arschloch und das fällt nicht nur mir auf, so, als wär das hier alles selbstverständlich". Er war wirklich sauer. Das konnte ich bis nach draußen spüren. Mariya allerdings reagierte genauso zickig und meinte trotzig: „Krieg erstmal deine eigenen Probleme in Griff, dann reden wir weiter. Ich weiß, dass du und Steffen euch getrennt habt! Bist du vollkommen bescheuert? Er war das Beste, was dir je passieren konnte und ich habe mir den Arsch aufgerissen, euch zusammenzubringen. Seit ich hier bin interessiert es dich einen Scheiß und nicht mal jetzt wäre dir eingefallen, mir mal von deinem nicht mehr vorhandenen Liebesleben zu erzählen! Ich will dir eines sagen: Die Trennung von Steffen hat dir alles andere als gutgetan, immer siehst du nur die Fehler in den anderen Menschen, immer machst du andere für deine scheiß Lage verantwortlich und musst allen immer mitteilen, wie schlecht es dir doch geht und wie unglücklich du bist. Es ist traurig, das mitanzusehen".

Mariya wählte klare Worte und mein Gewissen wurde mit jedem weiteren Wort schlechter.

Trotzdem war das, was sie eben sagte für meinen Geschmack zu hart. Ich musste mich einfach einmischen, es ging nicht anders.

„Mariya, es ist gut!", sagte ich behutsam. Ich hatte ihr noch nichts von dem gestrigen Abend erzählt und ihr aktueller Stand war, dass Niko und ich nicht gut aufeinander zu sprechen wären. Das konnte sie nicht ahnen, aber dementsprechend angepisst verließ sie den Raum und ließ mich mit einem am Boden zerstörten Niko zurück. Ich kniete mich neben ihn und antwortete auf seine nicht ausgesprochene Frage: „Hab euch belauscht". „Ich weiß nicht, was mit ihr los ist", wimmerte er, „bin ich einfach selbst das Problem, hat sie Recht?". „Sie hat nicht Recht, komm her". Ich zog ihn in eine innige Umarmung, die er bitternötig hatte. Ich genoss diesen engen Körperkontakt zwischen uns. „Komm, wir gehen runter, die ersten kommen bald", meinte ich und zog ihn an den Händen nach oben.

Er zog sich noch schnell um, derweil begab ich mich auf die Suche nach seiner Schwester, um sie mal auf den neusten Stand zu bringen. Ich wollte nicht, dass unser Verhältnis jetzt auch noch unter den ganzen Streitereien litt. „Bilyk!", rief ich in den Garten. Sie stand bei Luca und erst jetzt merkte ich, dass ich gerade ihren Kuss unterbrochen hatte. Peinlich berührt löste sie sich von ihrem Freund und kam zu mir. „Was gibt's?", fragte sie unbekümmert. „Sorry, wollte dich nicht stören... aber ich habe das Gespräch eben mit deinem Bruder mitbekommen". „Ich bin einfach immer noch sauer auf ihn", erwähnte sie. „Es gibt aber keinen Grund mehr dazu, ich meine... wir haben uns gestern geküsst".

Ich strahlte bei diesen Worten. Eigentlich wollte ich ja nichts sagen, aber das hier erachtete ich als notwendig. „Oh mein Gott", kreischte sie fast schon und auch ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. „Warum hast du nichts gesagt?", fragte sie weiterhin euphorisch. „Wir wollten es für uns behalten... es war wirklich schön und heute... naja, wir sind irgendwie wieder ganz normal miteinander umgegangen. Und es ging von ihm aus". „Jetzt bin ich doch wieder stolz auf meinen Bruder", lächelte sie, „aber ich bin mir selbst zu stolz dazu, einfach wieder nett zu ihm zu sein. Das ist glaub so ein Bruder-Schwester-Ding. Ich bin noch bisschen beleidigt und dann freunde ich mich wieder mit ihm an". „Tu was du nicht lassen kannst", lachte ich. „Aber gut, dass ich Bescheid weiß. Das ändert einiges", meinte sie noch. „Das dachte ich mir, deshalb wollte ich mit dir reden. Zwischen uns ist aber noch immer alles gut oder?", fragte ich sicherheitshalber nach. „Na klar, daran wird sich so schnell nichts ändern", grinste sie. „Außer du vögelst Disse, dann werde ich doch noch skeptisch dir gegenüber". „Er ist schon heiß", nuschelte sie unschuldig. „Verletzte nur Luca nicht, er hat es nicht verdient!", gab ich ihr auf den Weg mit. Sie nickte vorsichtig und setzte sich dann zu Rune und ihrem Freund auf das Sofa.

Disse stand etwas unbekümmert in der Gegend herum. „Können wir kurz reden?", fragte ich meinen Kumpel. Wir setzten uns an den Tisch und ich meinte: „Tu nichts Unüberlegtes, was Mariya angeht. Ihr zieht euch mit euren Blicken ja fast schon aus. Vergiss nicht, dass sie einen Freund hat". Disse war nach meiner kurzen Ansprache für einen Moment still. Er schien nachzudenken und wirkte generell ruhiger als sonst. „Es ist nicht so leicht", ließ er mich wissen, „ich weiß wirklich nicht, wie du und Niko es geschafft haben, eine sechsmonatige Beziehung zu vertuschen, ohne dass jemand wirklich dahinterkommt". Er wirkte fast etwas neidisch. „Gib zu, du wusstest es von Anfang an", lachte ich. „Ich habe vielleicht oft so getan oder so geredet, aber ich habe nie ernsthaft daran geglaubt. Ich habe es euch abgenommen, dass ihr Freunde seid und mehr nicht. Respekt, ich wäre zu unfähig dafür". „Man muss nur wissen, wie man es macht. Aber nochmal zu Mariya, ihr steht aufeinander, ganz eindeutig. Niko wird es nicht gerne hören, aber wenn was zwischen euch läuft, dann ist es halt so und ich glaube, dass ihr euch gut ergänzen würdet in einer Beziehung. Aber wir sind im Urlaub und Mariya ist mit ihrem Freund hier, also pass bloß auf, wie du das anstellst". „Danke Raffi, wirklich, ich rechne dir das sehr hoch an", sagte er. „Du bist zwar die größte Nervensäge, die ich kenne, aber du bist trotzdem mein Freund und für Freunde tut man alles", entgegnete ich.

Ach. Versöhnungen sind doch immer schön.

„Guck mal, da kommen die ersten", meinte ich zu Disse, der das ganze in einer zehnfachen Lautstärke herumposaunte. Das würde noch ein spannender Abend werden, da war ich mir sicher. Das Wichtigste war geklärt, jetzt mussten die Vorsätze nur noch umgesetzt werden. Ich hatte meine eignen Ziele und Pläne und ich war guter Dinge, diese in die Realität umzusetzen.

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt